Ende der 1960er Jahre wurde diese Werkstatt in ein kombiniertes Wohnhaus mit Ateliers umgebaut. Sein neues Heim und gleichzeitige Arbeitsstätte konnte mein Vater nicht mehr lange nutzen. Er starb 51-jährig am 20. Juli 1974 an den Folgen einer Herzoperation.
Die dritte Obernburger Koordinate in seinem Leben ist die „Schneidmühle“. Die „Schneidmühle“ war ein ehemaliges Sägewerk, das sich gegenüber der Kochsmühle (dem heutigen Kulturzentrum) befand und sich bis zu den Mainanlagen erstreckte. Emil Reichert hatte dort viele Obstbäume gepflanzt, es gab einen Gemüsegarten, Beerensträucher und viele Hühner, die frei herumscharren durften und glücklich waren.
Ab Mitte der 1950er Jahre hatte mein Vater in der „Schneidmühle“ sein Atelier. Dort entstanden viele Ideen für seine Kunstwerke, wurden in Skizzen und Entwürfe verwandelt, weiter entwickelt oder wieder verworfen. In der „Schneidmühle“ wurden – auch von meiner Mutter - die Mosaiken für Schulen, Kindergärten und Privathäuser gesetzt, Glasfenster in Originalgröße für Bleiverglasungen vorbereitet, Betonreliefs, Glasklebefenster oder Gipsschnitte gefertigt und vieles mehr. Die „Schneidmühle“ war außerdem ein beliebter Treffpunkt und ein Kinderparadies. Sie ist eine besonders wichtige Koordinate im Obernburger Leben meines Vaters.
Sein Lebensweg Richard Reis besuchte von 1929 bis 1936 die „Volkshauptschule“ von Obernburg. Danach war er Tüncherlehrling im elterlichen Betrieb und absolvierte von April 1937 bis Januar 1940 die „Fachabteilung Maler und Tüncher“ der Städtischen Berufsschule Aschaffenburg. 13 Jahre später legte er in Würzburg die Meisterprüfung für das Malerhandwerk ab.
Im Anschluss an die Berufsschule besuchte er von Januar 1940 bis August 1941 die Kunstschule „Die Form“ in München, die von Hein König geleitet wurde. Er hatte dort Unterricht in figürlichem Zeichnen und Malen, Freihandzeichnen und Landschaftsmalerei.
Es waren Kriegszeiten, auch mein Vater wurde zum bewaffneten „Dienst am Vaterland“ verpflichtet. Sein Soldbuch, damals Militär- und Personalausweis, stammt vom 24. Oktober 1942. Er kam zunächst zu den Gebirgsjägern nach Garmisch-Partenkirchen, nach weiteren Etappen an die Front nach Russland. Ende Februar 1944 wurde er bei Sewastopol (Krim) schwer verwundet und entrann knapp dem Tod.
In einem Kriegslazarett wurde ihm am 1. März 1944 der linke Oberschenkel amputiert. Den „Urlaub wegen der Lazarettbehandlung“ – so der Stempel im Soldbuch – durfte er bis Kriegsende in Obernburg verbringen. Mit 20 Jahren wurde der sportliche Richard also zum Prothesenträger, zum Laufen benötigte er einen Stock. 1947 wurde ihm eine 70-prozentige Erwerbsminderung bescheinigt, da er „erheblich geh- und stehbehindert“ war.
Vom Sommersemester 1946 bis Wintersemester 1951/52 ist er an der Hochschule der Bildenden Künste in München eingeschrieben. Zehn Semester lang studiert er bei den Professoren Franz Klemmer und Franz Nagel Zeichnen und Malen sowie Schrift bei Professor E. J. Schmid.
Der Schwerpunkt seiner Ausbildung ist die Gestaltung von Wand- und Glasbildern. Professor Nagel urteilt im Abschlusszeugnis: „Seine starke malerische Begabung und der vorbildliche Ernst seines Strebens zeitigten Leistungen überdurchschnittlicher Art.“
1952 kehrt Richard also von der Kunstmetropole München in die unterfränkische Provinz zurück. Seit 1949 ist er mit seiner geliebten Bertl verheiratet, hat eine fast dreijährige Tochter, die zweite ist „auf dem Weg“. Welche Möglichkeiten hatte in der darbenden Nachkriegszeit ein junger, gehbehinderter Künstler, der - eigentlich paradox – ausgerechnet „Kunst am Bau“ studiert hatte?
Sein künstlerischer Werdegang „Kirchengemälde wurde enthüllt“, verkündete das Main-Echo am 4. Dezember 1951. Am ersten Adventssonntag (2.12.) war das Altarbild der Evangelischen Friedenskirche in Obernburg enthüllt und geweiht worden, eine in Fresko-Secco-Technik ausgeführte Darstellung des „Abendmahls“. Es ist der erste bedeutende Auftrag von Richard „in der Heimat“. Damals war er noch Kunststudent und 28 Jahre alt.
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