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Heimat- und Verkehrsverein (HVV)
 63785 Obernburg am Main

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Latein am Untermain

Die Weltsprache Latein in den römischen Inschriften vom Untermain

"Service-Point" – dieses Wort kennt inzwischen jeder, der mit der Bahn fährt. So nämlich nennt sich heutzutage das, was unsere Großeltern noch als "Fahrkartenschalter" bezeichneten. Freilich musste die Bahn für diese modern und schick klingende Wortprägung eine bittere Kritik der Gesellschaft für deutsche Sprache einstecken. Doch anscheinend geht es nicht mehr anders. Denglisch, so nennt man scherzhaft die Mischform zwischen englischen Begriffen und unserer Muttersprache, liegt offenbar voll im Trend der Zeit. Wo unsere Großeltern entspannten, da chillen wir und wo Oma einkaufte, da shoppen wir. Und natürlich haben wir zum Telefonieren ein "Handy" in der Hand, während cool über unsere Schultern keine Handtasche hängt, sondern ein "body bag." Letztere Beispiele zeigen sehr schön, wie die Liebe zum englischen Begriff manchmal wahre Stilblüten treibt: Das "Handy" tut nur so, als sei es englisch (mobile phone oder cell phone wären die richtigen englische Wörter) und der "body bag" bezeichnet in England und USA keine Handtasche, sondern einen Leichensack. Unappetitlich und gar nicht modisch ... Ja, Englisch müsste man können!

Doch wir wollen jetzt einen Sprung zurück in ferne Zeiten tun. Ungefähr zweitausend Jahre gilt es zu überbrücken bis zu der Zeit, als die Römer am Untermain das Sagen hatten und als ihre Sprache, das Latein, als schick, modern, griffig, zeitgemäß und als einfach unverzichtbar galt. Latein war, neben dem Koine–Griechischen1, das man vor allem im Osten des Imperiums sprach, die "lingua franca", die allgemeine Verkehrssprache der Zeit. Heute nimmt das Englische diese Rolle ein, doch historisch gesehen erst seit sehr kurzer Zeit. Latein blieb immerhin zwei Jahrtausende die Verkehrssprache der Gebildeten. Noch Columbus ließ seinen Brief über die Entdeckung Amerikas ins Lateinische übersetzen, damit er weitere Verbreitung finden konnte als er das in der Volkssprache gehabt hätte.

Vorlesungen liefen bis ins 19. Jahrhundert auf Latein, Abiturientenreden wurden in Latein gehalten, Doktorarbeiten auf Latein abgeliefert, vornehme Leute bekamen auch ihren Grabstein auf Latein – einen davon können Sie an der Außenwand der Obernburger Kirche betrachten. Sogar heute noch wird für viele Studiengänge erwartet, dass der Student ein Latinum vorweisen kann. Latein als Weltsprache hat eine lange Geschichte, die in dem Moment beginnt, als die Römer ihr Imperium zu erobern begannen. Ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg waren die Kriege in Germanien und der Ausbau des Limes. So wurde auch in Obernburg ein Numeruskastell errichtet, römische Soldaten kamen in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, Benefiziarier sahen nach dem Rechten und ausgemusterte Soldaten, die so genannten Veteranen, gründeten Gutshöfe, die so genannten Villae Rusticae, z.B. auf dem Haselberg.

Latein am Untermain Kuhn_römisches Reich

Wie war es aber mit unseren fernen germanischen bzw. gallischen Vorfahren bestellt, die nun plötzlich mit einer Sprache konfrontiert wurden, die – so mancher Leser wird sich leidvoll an die eigene Schulzeit erinnern – nicht gerade leicht ist? Und konnten die Leute, die im Dienste des römischen Heeres standen, überhaupt selbst richtig Latein?

Die Inschriften vom Untermain, die in den letzten Monaten in der Münchner Ausstellung sehr schön zusammengeführt und präsentiert wurden, geben interessante Antworten auch auf diese Frage. Wer hat die Inschriften hinterlassen? Wer waren die Leute, die für "Senatus Populusque Romanus" (Senat und Volk von Rom) am Main Militärdienst leisteten? Rom war schon in der Antike eine Millionenstadt, aber eben nur eine Stadt. Die Einwohnerzahl Roms hätte nie und nimmer ausgereicht, alle Reichsgrenzen mit Soldaten zu versorgen. Es kamen auch nicht alle „römischen“ Soldaten und Offiziere, die am Außenposten "nasser Limes" stationiert waren, aus Italien. Selbst die italische Bevölkerung hätte für diesen Zweck nicht ausgereicht.

Beispielsweise wissen wir von zwei Lagerpräfekten, einem in Obernburg mit namens Lucius Petronius Florentinus und einem in Stockstadt namens Lucius Caecilius Caecilianus, dass sie beide von sehr weit weg stammten, nämlich aus Afrika. Nordafrika war in der Antike eine blühende römische Provinz, nachdem Karthago, die große Rivalin Roms um die Vorherrschaft am Mittelmeer, endgültig besiegt und dem Erdboden gleich gemacht worden war. Römisches Leben herrschte seitdem in Nordafrika und noch heute kann man dort ausgedehnte römische Ruinenstädte mit wunderschönen Mosaiken, Tempeln, Theatern und Amphitheatern besichtigen.

Wir wissen von drei Präfekten, die aus Nordafrika kamen und im späten 2. Jahrhundert nach Christus am Untermain Dienst taten. Das waren sicher keine einfachen und ungebildeten Leute, denn um Präfekt zu werden, sollte man mindestens "eques" sein, also dem Ritterstand angehören. Um sich aber "Ritter" nennen zu dürfen, musste man aus einer recht betuchten Familie stammen. Natürlich sprach man damals in den gebildeten Kreisen Nordafrikas Latein – doch wie gut konnte man es? Wollen wir also einmal die Inschriftensteine, die uns die beiden bereits erwähnten afrikanischen Präfekten hinterlassen haben, auf ihr Latein untersuchen!

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Weihestein, den Lucius Petronius Florentinus, der Obernburger Präfekt aus dem 2. Jahrhundert, den Göttern zum Dank für seine Genesung widmet und den wir heute im Haus neben der Römerapotheke eingemauert sehen. In ihm erwähnt Florentinus seine Herkunft aus der Stadt Saldae. Der Name dieser Stadt wird genauso dekliniert wie Athenae (Athen). Wie macht aber das Lateinische Ortsangaben? In Latein, das merkt man sofort, wenn man diese Sprache als Schulfach bekommt, muss man nach hinten schauen: Meistens kann man den Satz nur vom letzten Wort her aufrollen und bei fast jedem einzelnen Wort sagt einem erst die Endung, wie man fragen muss: Wer? Wen? Wem? Wohin? Woher? Wo? etc. Zumindest bei den Ortsangaben ist das Altgriechische leichter. Es nimmt nämlich manchmal - genauso wie wir heute - eine Präposition, also ein Verhältniswort wie "in", "aus", "nach", "zu". Wenn man also "in die Stadt" sagen möchte, dann heißt es auf Altgriechisch "e-is (=in) tän (=die) polin (=Stadt)". Zum besseren Lesen habe ich das mit unseren Buchstaben und nicht mit dem griechischen Alphabet geschrieben. "E-is tän polin" – machen Sie ein Experiment und sagen Sie das mehrmals und etwas schlampig vor sich hin. Verschlucken Sie dabei ruhig die letzte Silbe. 

Ahnen Sie, welche Weltstadt ihren Namen von diesen ursprünglich drei griechischen Wörtern hat? Ja, es ist Istanbul. Man sagte damals, als Istanbul noch Konstantinopel hieß und griechisch geprägt war, "ich gehe in die Stadt" – und setzte "die Stadt" mit der bestimmten Stadt gleich. Im Laufe der Zeit bekam die Stadt Konstantinopel den Namen nach der am meisten gebrauchten Verbindung: "in die Stadt", Istanbul. Nachdem der türkische Sultan Mehmet der Eroberer sie eingenommen hatte, war der Name Konstantinopel, der an Konstantin den Großen und damit an das Christentum erinnerte, bestimmt nicht opportun. Da war es besser, "in die Stadt" zu sagen. Ähnlich drücken wir uns aus, wenn wir sagen: "Ich fahr mal in die Stadt" und damit Aschaffenburg meinen. Gäbe es, wie im Falle von Konstantinopel, weit und breit keine andere große Stadt und ginge den Leuten aus irgendwelchen Gründen der Name "Aschaffenburg" schwer über die Lippen, dann würde unser Aschaffenburg vielleicht nach 500 Jahren auch "indieStadt" oder vielleicht verschliffen "Indesta" oder ähnlich heißen.

Doch zurück zum Lateinischen! Das Lateinische verwendet bei den Ortsangaben zu Städten keine Präpositionen, also kein "aus", "in", "nach". Im Lateinischen gibt es zu diesem Zweck die Endungen. Auf die Frage "woher?" muss nach der lateinischen Grammatik der Ablativus Separativus stehen, und der endet auf –is für die Substantive auf –ae. Zur Erinnerung: Athenis musste man in der Schule, je nach Textzusammenhang, manchmal mit "aus Athen" übersetzen. Was aber schreibt Florentinus? "SALDAS" lesen wir auf seinem Stein. Doch halt, das ist kein Ablativus separativus! Was ist es dann? Die Endung –as ist Akkusativ und der steht, wie man in der lateinischen Grammatik nachlesen kann, auf die Frage "wohin?". Und schon sind wir wieder bei Istanbul! Offenbar kannte auch Florentinus den Namen seiner Heimatstadt auf Latein nur in der am meisten gebrauchten Form: Saldas = nach Saldae.

Latein am Untermain Petroniusstein

Und der Stockstädter Kommandant? Konnte er besser Latein? Lucius Caecilius Caecilianus heißt er und er lebt wie Florentinus in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts. Er weiht seinen Stein dem Jupiter Dolichenus, einem aus Syrien stammenden Gott, den die Römer in der Manier der "interpretatio Romana" mit ihrem obersten Gott Jupiter gleichsetzten. Florentinus dagegen hatte seinen Stein rein römischen Göttern geweiht. Von daher scheint Caecilianus der orientalischere, der exotischere, der Rom-Fremdere der beiden Präfekten zu sein, auch wenn beide rein römische Namen tragen. Wie aber steht es mit seinem Latein? Er stammt aus der Stadt Theanae, ebenfalls in Nordafrika gelegen (vgl. Karte). Auch er möchte, genau wie Florentinus, seine Herkunft nennen. Was schreibt er? "Thaenas", also genauso falsch wie Florentinus – oder "Thaenis", die korrekte lateinische Form? Wer den Stein genau betrachtet hat, weiß es: Caecilianus setzt "THAENIS". Caecilianus kann – im Unterschied zu seinem Obernburger Kollegen – wirklich Latein.

Aber was heißt eigentlich Latein? Sprachen ändern sich mit der Zeit und was heute als falsch gilt, kann morgen schon richtig sein. Florentinus hat noch einen klaren Fehler gemacht, jeder gebildete Mann seiner Zeit hätte ihn erkannt und belächelt. Auf der berühmten Obernburger Schale können wir jedoch erkennen, wie das Latein sich wandelte. Es geht jetzt um die Buchstaben "v" und "b".  Wenn man die Entwicklung des Lateinischen zu den romanischen Sprachen betrachtet, dann stellt man fest, dass schon sehr früh Tendenzen auftauchten, die sich später durchgesetzt haben. Eine solche Sache ist das Verschwinden des „h“ im Anlaut. Schon der Dichter Catull, ein Zeitgenosse von Julius Caesar, schreibt ein Spottgedicht über einen gewissen Arrius2. Dieser Mann, offenbar ein Emporkömmling, der gebildeter scheinen wollte, als er in Wirklichkeit war, muss zu Hause gesprochen haben, wie es die einfachen Leute taten. Das heißt, Arrius ließ das "h" im Anlaut weg. Wenn Caesar beispielsweise "habet" (er hat) sagte, dann sagte Arrius zumindest "abet", wahrscheinlicher aber "avet", denn statt b sprachen die einfache Leute ein „v“. Übrigens entstand so die italienische Form des Wortes: "avere" ist italienisch für "haben", doch lateinisch hieß es  "habere". In feiner Gesellschaft musste Arrius unbedingt das „h“ setzen, um sich nicht als derben Klotz aus der Unterschicht zu outen. Was also tun? Der arme Arrius setzte das "h" also lieber einmal zuviel als einmal zu wenig – und machte sich durch die falschen "h" nur noch lächerlicher. Catull spottet über den übervornehmen Arrius, dass bei ihm das "ionische Meer" zu einem "hionischen" werde.

Ähnlich war es mit dem "b", das zu "v" wurde. Bald wussten zumindest die einfachen Leute nicht mehr, ob das, was sie als "v" sprachen, in Wirklichkeit ein "b" oder ein "v" war. Das stellte sie vor Probleme, wenn sie etwas Schriftliches verfassen mussten. In den Katakomben in Rom ist eine Grabinschrift überliefert, die eine Christin ihrem Ehemann setzen ließ. Sie wollte darauf folgendes stehen haben: "Er möge in Ewigkeit leben." Sie sprach diesen Satz damals so aus: "Vivat in aeternu(m)". Sie wusste noch, dass die Endung, die sie – wie wir es übrigens auch gerne tun – verschluckte, ein "m" war. Aber wie war es mit dem "v"–Laut? Musste  man  nicht "b" schreiben,  wenn man "v" sprach?  Ganz  nach dem Muster von "avere", das man sagte – aber schreiben musste man ja "habere". Leider war der Frau nicht klar, dass das Wort ("leben") auch im richtigen Latein "vivere" heißt, also mit "v". So tat sie, ähnlich wie Arrius, des Guten zuviel und ließ auf den Stein "bibat in aeternum" setzen – sehr zur Erheiterung der Gebildeteren, denn das bedeutet: "Er möge in Ewigkeit weitersaufen".

Doch zurück zur Obernburger Schale! Sie stammt aus sehr später Zeit, als sich die so genannte vulgärlateinische Lautung weitgehend durchgesetzt hatte. Auch die besseren Kreise wussten nicht mehr, wo man ein "v" und wo man ein "b" schreiben musste. Deshalb erscheint das Wort für Erlöser, lateinisch "Salvator", auf ihr in der vulgärlateinischen Lautung "Salbator", obwohl die hohe künstlerische Qualität der Schale beweist, dass sie sicher kein provinzielles Produkt ist.

Wie wir sehen, ist das Latein der Römer am Untermain keineswegs identisch mit dem Latein, das Cicero und Caesar sprachen und das man bis heute im Lateinunterricht des Gymnasiums lernt. Doch wie war es mit den am Untermain lebenden Galliern? Wie steht es mit ihren Versuchen, Latein zu schreiben? Eines ist klar: Wer von den Einheimischen etwas auf sich hielt, der wollte es dadurch zeigen, dass er einen Grab- oder Weihestein in lateinischer Sprache setzen ließ.

 Noch besser war natürlich, wenn man darauf seine klassische Bildung beweisen konnte. Ein schönes Beispiel dafür ist der bekannte, von einem Einheimischen in Auftrag gegebene Girisonius-Grabstein (heute im Obernburger Römermuseum), der eine Anspielung auf einen spartanischen Helden enthält – dessen Name allerdings falsch geschrieben wurde. Statt des richtigen Othryades mit einem "th", was die griechische Herkunft des Namens erfordert, finden wir auf dem Obernburger Grabstein "OTRIHYADE".

Das interessanteste Beispiel für das Latein der Einheimischen steht aber in Miltenberg im Museum der Stadt. Er ist vermutlich ein paar Jahrzehnte jünger als der Girisonius-Stein, hat aber mit diesem gemeinsam, dass er von einem Einheimischen in Auftrag gegeben wurde.

Latein am Untermain Cossillus-Stein

Der Gallier Cossillus hatte einen besonderen Traum, über dessen Inhalt uns der Stein leider nichts verrät. Doch muss Cossillus sehr tief getroffen worden sein von seinem Traumbild, denn er weiht aus diesem Anlass einem Gott einen Weihestein. Der Gott, den er damit ehren will, ist mit dem römischen Merkur gleichzusetzen, dem Beschützer des Handels. Vielleicht war Cossillus ein Händler? Vielleicht hat er im Traum einen wichtigen geschäftlichen Hinweis bekommen und dadurch viel Geld verdient, wofür er natürlich dem dafür zuständigen Gott etwas zum Dank in Form des Steines zurückgeben möchte.

Woher aber wissen wir, dass Cossillus ein Gallier ist? Neben dem Namen, der mit Ausnahme der Endung –us nicht besonders lateinisch klingt, ist es der Beiname des Gottes: "Avernorix". Das klingt sehr nach Asterix und Obelix, denn wir haben es hier mit der typisch gallischen Endung –ix zu tun, die einen Herrscher bezeichnet. Cossillus setzt seinen einheimischen Gott, genauso wie es der Kommandant Caecilianus mit Dolichenus tat, mit dem entsprechenden römischen Gott gleich. Übrigens weiß man, dass "Avernorix" (wörtlich: Der König der Averner) auf einem Vulkankegel in der Auvergne (auch hier hören wir noch den Stammesnamen "Averner" mit) besonders verehrt wurde und es wird überliefert, dass das dortige Kultbild vom gleichen Künstler geschaffen wurde, der auch die vergoldete Kolossalstatue des Kaisers Nero in Rom angefertigt hat. Von dieser wiederum bekam das später an der gleichen Stelle erbaute Colosseum seinen Namen.

Cossillus schreibt also "MERCVRIO ARVERNORIC" 3, übersetzt: "für Merkur-Avernorix" und hat in diesen zwei Worten schon seinen ersten Lateinfehler gemacht, indem er die Dativ-Endung ("wem gewidmet?"), ein –i , einfach weglässt. Korrekt müsste es "Mercurio Arvernorici" heißen. Doch das bleibt nicht sein einziger Fehler. Seinen Namen kann er (vermutlich, doch das werden wir nie endgültig klären können) richtig schreiben, doch schon im nächsten Wort macht er wieder einen Fehler. "DONAVI" lesen wir auf dem Stein, "ich habe geschenkt, gespendet" – üblich wäre aber "donavit" = "er hat geschenkt, gespendet." Auch das nun folgende Wort ist nicht richtig: "ES" = "aus, auf Grund von". Es müsste nämlich "ex" heißen. Vermutlich hat unser Cossillus das Latein immer nur gehört und daher x und s verwechselt. Beim folgenden Wort vertut er sich wieder bei der Endung. "Viso" müsste es heißen, doch er schreibt "VISV". Wie nahe beieinander "u" und "o" zuerst in der Sprache des einfachen Volkes, später aber auch in der Sprache aller Schichten lagen, das zeigt die Entwicklung der Lateinischen zum Italienischen. Viele italienische Hauptwörter enden auf –o, beispielsweise vino, der Wein. Entstanden ist das italienische Wort aus lateinisch "vinum" – wobei das "m" am Wortende, wie bereits weiter oben einmal erwähnt, nicht mehr gesprochen und das – u zu –o verändert wurde. Die mündliche Aussprache erklärt also diesen Lateinfehler des Galliers Cossillus:

Auch die römische Besatzung sprach das –o und das –u fast gleich aus, sodass man am Ende einfach nicht mehr wusste, ob man nun –o oder –u schreiben musste. Auch Cossillus entscheidet sich, ähnlich wie Arrius mit seinem h-Problem, dafür, das –u lieber einmal zuviel als einmal zu wenig zu setzen. Überkorrektheit also auch hier.

Sie ahnen es wohl bereits: Der nächste Lateinfehler kommt schon im folgenden Wort. "LETUS" schreibt Cossillus, "froh" habe er sein Gelübde erfüllt. Doch muss man das mit "ae" schreiben: laetus. Zur typischen Weiheformel gehört auch das nächste Wort und es enthält, wir ahnen es, den nächsten Fehler: "LIBES", also bereitwillig, habe er sein Gelübde erfüllt. Das korrekte lateinische Wort heißt jedoch "libens". Cossillus ist Gallier, das sollte man sich hier in Erinnerung rufen.

Die Gallier übernahmen das Latein, welches – grob vereinfacht - dann im Kontakt mit ihrer Volkssprache zum Französischen wurde. Fürs Französische sind die nasalen "n" typisch – und genau so ein nasales "n" wird Cossillus gesprochen haben und kein "normales", d.h. deutlich zu hörendes "n". Kommen wir zum letzten Wort: "MERITO". Es ist ausnahmsweise fehlerfrei und bedeutet: "wie es seine Pflicht und Schuldigkeit war".

Wenn man nun alles zusammenzählt, kommt man auf sechs Fehler in neun Wörtern. Eine wahrhaft stattliche Zahl, vor allem wenn man bedenkt, dass von den drei richtigen Wörtern zwei Eigennamen sind! Ein einziges echtes lateinisches Wort konnte er also fehlerfrei schreiben ...

Jede Zeit macht ihre eigenen sprachlichen Fehler. Aber die Prinzipien, die diesen Fehlern zugrunde liegen, sind über die Jahrtausende immer gleich. Zwei davon möchte ich noch einmal hervorheben. Das eine allgemein menschliche Prinzip ist, dass man seine Bildung und Weltoffenheit demonstrieren will.

Das ist bei der Bahn mit ihrem "Service-Point" nicht anders als beim Gallier aus dem 2. Jahrhundert, der unbedingt "Othryades" auf dem Grabstein haben musste. Doch manchmal tappt man dabei in die Falle, sei es die moderne Modebranche  mit dem "body bag" oder der Gallier vor fast 2000 Jahren mit seinem "Otrihyade".

Ein weiteres Prinzip heißt Überkorrektheit. Man ist sich unsicher und nimmt daher die komplizierte Lösung. "visu" schreibt Cossillus, weil er irgendwie weiß, dass der Laut am Wortende, den man wie –o spricht, oft als –u geschrieben wird. Also setzt er –u, wo es gar nicht hingehört. Arrius spricht überall ein „h“ im Anlaut, auch wo es nicht hingehört.

Uns geht es heute so mit dem Apostrophen. Dieses kleine Zeichen wird fatalerweise nie gesprochen und doch muss man es manchmal schreiben, z.B. in der Wendung: "Berti Vogts' Arbeit als Trainer". Weil man sich aber unsicher ist, wo ein Apostroph hingehört, setzt man ihn – sicherheitshalber! – auch an vielen Stellen, wo er völlig fehl am Platze ist, so beispielsweise in einer Werbeanzeige, welche "die Aktion des Monat's" anpreist.

Schauen Sie doch einmal Werbeplakate, Speisekarten und Zeitungsanzeigen auf die hyperkorrekte Apostroph-Verwendung durch. Sie werden eine Fülle von Beispielen finden, die einem Cossillus oder Arrius durchaus das Wasser reichen könnten!

Margit Kuhn

Anmerkungen:
1: Das bedeutet "Gemeinschaftsgriechisch" und war u.a. die Sprache des Neuen Testaments
2: Catullus, carmen 84
3: Dass das u als v geschrieben wurde, ist völlig normal.

Quelle: Welterbe Limes – Roms Grenze am Main, Die Steindenkmäler, Mitteilungen der Freunde der bayerischen Vor- und Frühgeschichte, Nr. 121 vom 3. April 2008