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Heimat- und Verkehrsverein (HVV)
 63785 Obernburg am Main

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Die Geschichte des Hauses Römerstraße 27

Jedes Haus hat seine ganz eigene Geschichte und seine Geschichten und nicht zuletzt auch das Wissen um solche Einzelheiten vermittelt ein Gefühl von Zugehörigkeit, von „hierher zu gehören“ – eben von Heimat!

Einzelheiten wie: Wann und unter welchen Umständen ist ein Haus entstanden? Was verbirgt oder verbarg sich, von außen nur selten erkennbar, unter seinem schützenden Dach? Freud’? Leid? Wer sind oder waren seine Bewohner? Kennt man die oder hat man die gekannt?

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Am Beispiel meines Elternhauses bin ich solchen Fragen nachgegangen, um Menschen und Begebenheiten vor dem Vergessen zu bewahren, längst Verschüttetes wieder ans Tageslicht zu holen, altes Wissen aufzufrischen und um in unserer schnelllebigen Zeit ganz einfach an früher zu erinnern und davon zu erzählen.

Alles fing an in Eisenbach ....

Ernst Schnabel

 

Im heutigen Stadtteil Eisenbach gibt es seit alters her das Gasthaus „Krone“, das bereits im vorletzten Jahrhundert lange Zeit im Eigentum der Familie Faust stand und seit 1892 von Hermann und Maria Faust, geb. Boll, geführt wurde.

Bei einem durch Glatteis verursachten Unglücksfall kam Hermann Faust im Januar 1904 schon im Alter von knapp 39 Jahren auf tragische Weise ums Leben. Er hinterließ neben seiner Witwe die Kinder Gottfried, Elisabeth (Lieschen), Joseph (Seppl) und Valentin. Trotz der Trauer um den verstorbenen Ehemann kam Maria Faust bald zu der Erkenntnis, dass eine gut gehende Gastwirtschaft mit Landwirtschaft erfolgreich zu führen und gleichzeitig vier Kinder mit Verantwortung großzuziehen ohne die Unterstützung eines fleißigen Mannes im Hause auf Dauer nicht möglich ist. Dieser Umstand musste sich bis Obernburg herumgesprochen haben, denn ein Obernburger namens Rafael Hirsch kam, warb - und siegte, denn im August 1906 wurde der Bund fürs Leben geschlossen. Die Ehe war mit zwei Töchtern gesegnet: Frieda (meine Mutter) und Maria (Mariechen).

Im Laufe der folgenden Jahre reifte bei meinem Großvater jedoch die Einsicht, dass lebenslang „Kronenwirt“ zu sein nicht das war, was er sich als berufliche Lebensaufgabe vorgestellt hatte. Hinzu kam, dass es ihn wieder nach Obernburg zog. Da auch seine Frau, die zwar aus einer Gastwirtschaft im nahen hessischen Radheim stammte, sich aber nie als die geborene Wirtin gefühlt hat, nicht grundsätzlich dagegen war, wurde die „Krone“ 1913 verkauft und in Obernburg das Anwesen Römerstraße 72 von den Erben des Thaddäus Reis erworben und mit der nun achtköpfigen Familie bezogen. Platz war ausreichend vorhanden; für die Brüder Gottfried und Seppl reichte er sogar für eine Schneiderwerkstatt, die sie sich nach Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg eingerichtet haben.

Mein Großvater war ein vielseitig interessierter und hilfsbereiter Mann, kümmerte sich, nun wieder daheim in Obernburg, um die kleine Landwirtschaft seiner ledigen Schwester Anna Hirsch in der Katharinenstraße, half seinen Mitbürgern, wo er nur konnte - besonders in Steuerangelegenheiten - und war für die Stadt Obernburg als Hilfskassier und für das Finanzamt Aschaffenburg als Steuereinheber tätig. Damals wurden die Steuern noch bar bezahlt, den Überweisungsverkehr kannte man noch kaum. Ganz ungefährlich war dieser Job nicht, denn von meiner Mutter weiß ich, dass er einmal von einer Obernburger Geschäftsfrau massiv mit einem Messer bedroht worden ist, weil er sich erlaubt hatte, sie an die Bezahlung ihrer Steuerschulden zu erinnern!

Das Leben ging also seinen Gang, man hatte sich gut in Obernburg eingelebt und integriert, alle Männer der Familie kamen gottseidank wieder vom Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg heim und waren heilfroh, dem furchtbaren Gemetzel auf den Schlachtfeldern lebend entkommen zu sein.

Die beiden Schwestern Frieda und Mariechen vertrugen sich trotz des Altersunterschieds gut mit den älteren Geschwistern und hatten, solange diese noch daheim wohnten, mit ihnen viel Spaß, da sie allesamt recht humorvolle Naturen waren – bis das Schicksal jäh hart und gnadenlos zugeschlagen hat:

Es war in der Heuerntezeit des Jahres 1927, als in der Nacht auf Donnerstag, 30. Juni, in der Römerstraße ein Feuer ausbrach, das sich sehr schnell auf drei Wohnhäuser und mehrere Scheunen und Nebengebäude ausbreitete. Bis die Obernburger Feuerwehr, später noch unterstützt von den Wehren aus Eisenbach und Elsenfeld richtig eingreifen konnte, gab es kaum mehr etwas zu retten. Sie konnte sich fast nur noch auf den Schutz der Nachbargebäude beschränken, die durch Wind und Funkenflug stark gefährdet waren.

Alle drei Wohnhäuser samt Nebengebäuden wurden komplett vernichtet; die Eigentümer hatten ihre gesamte Habe verloren und standen vor dem Nichts! Glück im Unglück für die Bewohner: Bei dem Brand kam keiner von ihnen zu Schaden. Anders bei der Feuerwehr, denn hier gab es zwei verletzte Wehrmänner, als eine  Schubleiter umgestürzt ist.

Wie später vermutet wurde, könnte unsachgemäßes Hantieren mit Asche in der benachbarten Bäckerei die Brandursache gewesen sein.

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Diese Collage zeigt die                ---------------------- drei Häuser (über dem Strich) vor dem Brand.

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Ort der Brandkatastrophe waren die kurz vor dem Oberen Tor auf der rechten Seite gegenüber dem Gasthaus „Zur Sonne“ (heute Sparkasse) und zwischen der Bäckerei Jakob Gruber (heute Hypobank) und der Sattlerei Philipp Volk gelegenen drei Anwesen Römerstraße 70, 71 und 72 der Familien Josef Gimpel, Johann Röder und Rafael Hirsch, die im Süden bis auf ein schmales, heute noch erkennbares Gässchen an die Anwesen Volk und Jakob Nebel und im Westen an das Anwesen Bruno Rothermich (heute Hauenschild) heranreichten.

In diesem Plan von 1844 sind die Wohnhäuser der drei abgebrannten Anwesen dunkel gekennzeichnet.

 

Alle drei betroffenen Familien kamen vorerst bei Verwandten und Bekannten unter. Die Familie Hirsch mietete sich übergangsweise im Dachgeschoss bei Willi Fischer in der Lindenstraße ein und war zunächst entschlossen, ihr Brandgrundstück - wie dies auch die Familien Gimpel und Röder gegen Zuweisung anderer Bauplätze im Stadtgebiet taten - an die Stadt Obernburg zu verkaufen und in der Lindenstraße ein neues Einfamilienhaus zu bauen. Ein Bauplatz war vorhanden, heute befindet sich dort der bis an die Bergstraße reichende öffentliche Parkplatz.

Nach Überwindung des ersten Schocks über den erlittenen Verlust freuten sich Eltern und Töchter auf das neue Haus mit Garten und viel Luft und Sonne und vor allem ohne unmittelbare Nachbarn, die sich, wie bei alter Bausubstanz üblich, gegenseitig fast in die Kochtöpfe schauen konnten und voneinander so gut wie alles wussten. Die vier Kinder aus der ersten Ehe meiner Großmutter Maria Hirsch, verw. Faust, waren zu dieser Zeit schon aus dem Hause: Gottfried hatte sich mit Mathilde Reis und Lieschen mit Franz Babylon verheiratet, Valentin war nach der Bierbrauerlehre bei seinem Onkel in Miltenberg (Faust-Brauerei) als Geselle auf Wanderschaft und Seppl arbeitete in seinem Beruf als Schneider bei Loden-Frey in München.

Doch aus den schönen Plänen vom Häuschen im Grünen wurde leider nichts, denn mein Großvater hatte die Rechnung ohne seinen älteren Bruder Joseph gemacht, der in München als wohlbestallter Verwaltungsbeamter tätig war und großen Einfluss auf den jüngeren Bruder in Obernburg hatte. „Ein Hirsch lässt sich durch nichts aus der Römerstraße vertreiben“, war sein keine Alternative zulassen- der Kommentar zu den Neubauplänen seines Bruders. Und den wiederholte er so oft, bis mein Großvater - zum großen Leidwesen vor allem der Töchter - weich wurde, das Bauvorhaben in der Lindenstraße aufgab und sich zu einem Neubau nun doch am alten Standort in der Römerstraße überreden ließ.

Dort hatten sich aber inzwischen einige Änderungen insofern ergeben, als die Stadt plante, zum Zwecke der Verbesserung der Verkehrssituation im Bereich des Oberen Tors durch Verbreiterung des ursprünglichen Gässchens zwischen den abgebrannten Häusern und den Anwesen Volk und Nebel eine Entlastungsstraße von der Römerstraße über die Obere Wallstraße zur Lindenstraße zu bauen. Die neue Straße hätte teilweise über die Brandgrundstücke führen sollen und wäre dann realisiert worden, wenn das noch im Wege stehende Haus der Familie Bruno Rothermich erworben und abgebrochen hätte werden können. Zur Verwirklichung des geplanten Neubaues, der weit großzügiger dimensioniert als das abgebrannte Haus war, musste mein Großvater deshalb von der Stadt Baugelände zukaufen, in etwa das Brandgrundstück des früheren Anwesens Römerstraße 71.

Angemerkt sei in diesem Zusammenhang: Zum Bau der Entlastungsstraße kam es bekanntlich bis heute nicht. Die für diesen Zweck vorgesehene, im Eigentum der Stadt befindliche Freifläche an der Römerstraße wurde bis zur Nachkriegszeit hauptsächlich von Jakob Nebel als Abstellplatz für landwirtschaftliche Geräte, von Kindern als Spielplatz und gelegentlich von Autos als Parkplatz genutzt. Vor einigen Jahren wurde sie umgewidmet in den „Prälat-Benkert-Platz“ und dient heute ganz offiziell als städtischer PKW-Parkplatz.

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Nachdem auch noch Unstimmigkeiten um die Baulinie an der Römerstraße bereinigt waren (mein Großvater musste entgegen seinen Vorstellungen weiter von der Römerstraße abrücken), ging es noch im Herbst des Jahres 1927 in die endgültige Planung eines Wohn- und Geschäftshauses mit Nebengebäude durch den Architekten Hanns Holl und an die Ausführung des Neubaues durch die ortsansässige Baufirma Hofmann.

Interessantes Detail ist, dass der vormals eigene Keller und der des Hauses Römerstraße 71 „mitverwendet“ wurden, womit das Haus zwei verschieden tiefe, durch Treppen verbundene Keller bekam.

Im ebenfalls neu erbauten Nebengebäude im Hof entstanden Holzlager- und Abstellräume für alle Hausparteien, eine Waschküche und ein Garagenraum.

Im Rahmen einer Neuordnung wurde die Hausnummer in Römerstraße 27 geändert.

Der Neubau ging zügig voran und wurde nach zur damaligen Zeit modernsten Standards gebaut und ausgestattet, weshalb die zur Verfügung stehenden Geldmittel ohne eine weitere Fremdgeldaufnahme knapp zu werden drohten. Da er Letzteres aber vermeiden wollte, trug sich mein Großvater zeitweilig sogar mit Verkaufsgedanken.

Dies kam einem hier tätigen Tierarzt zu Ohren, der über einen Mittelsmann anfragen ließ, wo denn die Kaufpreisvorstellungen lägen. Auf Basis einer zu diesem Zweck erstellten Sachverständigenschätzung nannte mein Großvater den Betrag von 35.000 Reichsmark. Das war dem Tierarzt scheinbar zu teuer, denn er ließ meinen Großvater wissen, wenn er nicht bereit wäre, billiger zu verkaufen, könne er ihn (den Tierarzt) 35.000 Mal am A..... lecken! Diese primitive und unverschämte Antwort des feinen Herrn löste bei meinem Großvater offensichtlich den „Dir-werd’-ich’s-zeigen-Effekt“ aus. Denn getreu dem Leitsatz seines älteren Bruders verwarf er seine Verkaufsabsicht, biss in den sauren Apfel und besorgte sich eine weitere Hypothek, um den Neubau ohne Abstriche planmäßig vollenden zu können.

Nach Fertigstellung des Hauses wurden das Ladengeschäft mit Wohnung im Erdgeschoss und die geräumige Wohnung im 1. Obergeschoss vermietet, die Familie meines Großvaters bezog das Dachgeschoss. Der Speicher über dem Dachgeschoss wurde im Winter von der Hausgemeinschaft und teilweise auch von Nachbarn gerne zum Wäschetrocknen genutzt.

Leider hatten Rafael und Maria Hirsch nicht mehr viel vom neuen Haus, denn bereits 1930 verstarb meine Großmutter an Herzschwäche und vier Jahre später mein Großvater mit 59 Jahren an Kehlkopfkrebs, wenige Monate vor der Geburt seines ersten Enkels.

Die Schwester meiner Mutter, Tante Mariechen, hatte ausgangs der dreißiger Jahre den Wörther Schiffbauer Alois Bauer geheiratet und wohnte seitdem in Wörth.

Bis 1954 waren Mieter der Wohnung im 1. Obergeschoss u. a. die Familie des Zahnarztes Dr. Rudolf Klemm, deren beiden Söhne hier geboren wurden. Während des Krieges und bis ca. 1953 war der Rechtsanwalt Hans Kress mit Familie Wohnungsmieter, der hier zeitweise auch das Amt des Obernburger Notars ausgeübt und Anfang der fünfziger Jahre in der Bergstraße selbst gebaut hat. Anschließend zogen meine Eltern mit meinem Bruder Ludwig und mir aus der Dachgeschosswohnung in die Wohnung im 1. Obergeschoss, die bis zum Tod meines Vaters von unserer Familie genutzt wurde, nach dem Tod meiner Mutter 1986 vom Vater bis zum März 2000 alleine.

Meine Eltern hatten im Januar 1934 geheiratet. Mein Vater Emil Johann Schnabel wurde im Eisenbacher sog. Oberdorf geboren. Er war gelernter Schneider, hat zunächst als Heimschneider und dann, unterbrochen nur durch die Kriegszeit, sein ganzes Berufsleben lang als Zuschneider bei der Kleiderfabrik Hugo Giegerich auf der anderen Mainseite gearbeitet (heute Baywa Lager- und Siloanlage). Sie bekamen vier Buben, die bis auf mich leider alle schon verstorben sind; zwei bereits im Kleinkindalter, was meine Eltern nie richtig verwunden haben.

Eiserne Sparsamkeit, Disziplin und Bescheidenheit waren es, was ihr Leben geprägt hat. Jeder Pfennig wurde zweimal umgedreht, denn schließlich hatten sie sich bei der anlässlich ihrer Heirat erfolgten Hausübernahme auch zur weiteren Rückzahlung der Hausschulden und zur Auszahlung der Erbteile an die Geschwister meiner Mutter verpflichtet. Im Übrigen galt ihr Leben lang der Grundsatz: Erst sparen, dann vielleicht ausgeben!

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Der Laden mit Wohnung im Erdge-schoss hatte im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten Mieter, u.a. in der Kriegs- und Nachkriegszeit das Uhren-, Schmuck-, Radio-, Andenken- und Musikinstrumentengeschäft des Uhrma-chers Julius Katheder (Bild). Zeitweise betrieb er auch eine Gasolin-Tankstelle.

 

Mit dem gleichen Eifer, mit dem er in der Zeit des Führerkults Hakenkreuzschmuck verkauft hatte, betätigte er sich, als der Zweite Weltkrieg unsere Heimat zu überrollen drohte, als einer der beiden Luftschutzwarte der Stadt und war als solcher dafür verantwortlich, dass im Ort abends und nachts alle Fenster abgedunkelt waren, um feindlichen Flugzeugen keine Ziele zu bieten. Dieses Amt soll er sehr ernst genommen und sich deshalb mit nicht wenigen Bürgern angelegt haben. Bei uns in der Hausgemeinschaft galt seine Stellung als Mann für die Sicherheit ohnehin als unbestritten, zumal mein Vater als Soldat in Russland war.

Dass das aber nicht immer nur eine ernste Sache war, mag folgende Episode veranschaulichen:

Eines schönen Sommertags im Jahre 1944 ließ er die Eilmeldung im Hause verbreiten, dass sich alle Hausbewohner unverzüglich mit Gasmaske im Luftschutzkeller - das war der tiefst gelegene Kellerraum im Haus - einzufinden hätten, da feindliche Bomber im Anflug seien. Wie sich später herausstellte, stimmte dies zwar, aber sie warfen ihre tödliche Last im Raum Frankfurt ab.

Gesagt, getan, und auf sein Geheiß legten wir uns alle bäuchlings auf die Holzroste am Kellerboden und sperrten wegen des bei Bombenabwürfen entstehenden Luftdrucks den Mund weit auf. Und tatsächlich, draußen begann es zu rumoren und zu rumsen und wollte nicht mehr aufhören. Katheder beruhigte uns mit dem Hinweis, dass das Bombardement ja nicht ewig dauern könne!

Meinem älteren Bruder Ludwig, neugierig und wagemutig wie er war, kam das Spektakel nicht ganz geheuer vor. Er schlich sich, ohne dass jemand es merkte, aus dem Keller, um nachzuschauen, wo die Bomben fielen. Kurz darauf kam er zurück und berichtete hämisch lachend, dass die „Bomben“ fallende Bierfässer seien! Das unserem Haus gegenüber liegende Gasthaus „Zur Sonne“ bekam nämlich zur gleichen Zeit, als wir den Fliegerangriff erwarteten, eine Bierlieferung.

Wie es damals üblich war, rollten die Bierfahrer die Fässer an den Rand der Ladefläche der Bierautos und ließen sie auf dicke Lederkissen fallen, die sie vorher auf der Straße ausgelegt hatten. Die dumpfen  Schläge, die die fallenden Bierfässer dabei verursachten, hatte unser Luftschutzfachmann Katheder für Bom-beneinschläge gehalten. Ziemlich kleinlaut hat er daraufhin den „Bombenalarm“ umgehend abgeblasen.

Anfangs der fünfziger Jahre übergab Katheder wegen Umzugs nach Penzberg bei Weilheim sein Geschäft mit Wohnung an seinen damaligen Mitarbeiter Walter Zenker, der es etliche Jahre weiterführte, aber als gelernter Uhrmacher nur noch als Uhren- und Schmuck-Fachgeschäft. Der „hohen“ Miete wegen (DM 190 für Laden mit Nebenräumen!) verlegte er dann das Geschäft innerhalb der Römerstraße in das Haus von Jakob Reis.

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Nachfolgende Mieter des Ladengeschäftes waren die Binding-Brauerei („Odenwald-Grill“), die Bayerische Landesbau-sparkasse und seit 1998 bis heute das Reisebüro Meisinger.

In den sechziger Jahren ging der Traum vor allem meiner Mutter vom Garten direkt am Haus in Erfüllung, als das Bäckereianwesen Gruber/Strobl an die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank für einen Bankneubau verkauft wurde. Da sie nicht das gesamte Grundstück für ihre Zwecke benötigte, bot der damalige Hypo-Chef Kehrer meinen Eltern den Grundstücksteil westlich unseres Hofgrundstücks bis zur Oberen Wallstraße zum Kauf an, was mit Freuden angenommen wurde.

Gleich mehrere Schutzengel hatten im Sommer 1958 alle im Haus und durften dabei ein klassisches Beispiel uneigennütziger Nachbarschaftshilfe erleben: Im Verlaufe eines starken Gewitters schlug ein Blitz „nur“ in einen der damals noch vorhandenen drei Kamine ein und zerfetzte diesen, wodurch u. a. durch weggeschleuderte Backsteine zum Teil große Löcher im Ziegeldach entstanden.

Bei der spontanen und nicht ungefährlichen Hilfsaktion der Nachbarschaft zur Abdichtung des Daches bei Blitz, Donner und strömendem Regen haben sich besonders die Nachbarn Willi Bock und Friedel Ripperger verdient gemacht, was ihnen meine Eltern nie vergessen und zeitlebens gedankt haben.

Die drei Bilder zeigen von oben nach unten:

Geschäft Katheder,
Odenwald-Grill,
Bayerische Landesbausparkasse.

Es gäbe noch vieles mehr von dem zu berichten, was sich rund um mein Elternhaus und dessen Bewohner in mein Gedächtnis eingeprägt hat. Da dies aber den Rahmen dieser Erzählung bei weitem übersteigen würde, will ich hier nur dies eine festhalten: Ich bin sehr stolz auf die trotz harter Schicksalsschläge auf allen Gebieten elterlicher Fürsorge erbrachte Lebensleistung meiner Eltern!

Was meine Person anbelangt, bin auch ich, wie einige Jahre vorher schon mein Bruder Ludwig, 1961 als eben 21 und damit volljährig gewordener junger Mann „in die Fremde“ gegangen, um den Horizont in beruflicher und geistiger Hinsicht zu erweitern. Ursprünglich waren dafür zwei Jahre vorgesehen, woraus aber 15  wurden, weil ich 1964 in Fürstenfeldbruck bei München durch die Heirat eines „Münchner Kindl’s“ eine Familie gegründet hatte und nach beruflichen Stationen in Fürstenfeldbruck, Zürich, München und Dachau erst 1976 mit Frau und drei Kindern wieder in Obernburg Wohnsitz nahm. Weil damals im Elternhaus alle Wohnungen belegt waren und wir niemanden verdrängen wollten, die Eltern schon gar nicht, haben meine Frau und ich am Höllenstutz ein zum Verkauf stehendes Haus erworben.

Ungefähr zur gleichen Zeit ließ sich mein Bruder mit seiner Frau im Raum Miltenberg nieder. Nach langjähriger erfolgreicher Tätigkeit im Ausland verschrieb er sich damals als mit viel einschlägiger Theorie ausgestatteter, letztlich aber doch berufsfremder Quereinsteiger mit erheblichem finanziellen Aufwand seinem lebenslangen Hobby, dem ökologischen Landbau. Zuletzt hochgradig zuckerkrank und fast erblindet, ist er 1995 im Alter von knapp 61 Jahren leider kinderlos verstorben.

Seit dem Tod meines Vaters im Jahre 2000 wird die große Wohnung im Elternhaus nach umfangreichen Renovierungsmaßnahmen von unserer jüngsten Tochter Susanne Schnabel mit ihrem Ehemann Christian Weiner aus Eisenbach und ihren drei Kindern bewohnt, die mittlerweile Mehrheitseigentümer des Hauses sind.

Da unsere Tochter im Haus ein Büro für Übersetzungen und Grafikdesign betreibt und die Kinder - so wie es ja sein soll - gut wachsen und gedeihen, wird die Familie aus Platzgründen demnächst auch die Dachwohnung, die von 1954 bis jetzt vermietet war, nach gründlicher Renovierung für eigene Zwecke nutzen.

Wer also heute am Haus Römerstraße 27 vorbeigeht und im Hof Kinder spielen, juchzen, schimpfen, weinen oder unbeschwert lachen hört oder sieht, wird feststellen, dass sich hier bereits die fünfte Generation auf den Weg gemacht hat und das Leben im Haus munter weitergeht .....