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Heimat- und Verkehrsverein (HVV)
 63785 Obernburg am Main

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Richard Reis - Kunstmaler und Bildhauer
 

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Obernburger Koordinaten

Richard Reis kam am 3. Juni 1923 in Obernburg als Sohn von Anton Reis und dessen erster Frau Marie (geb. Stahl) auf die Welt. Seine Mutter starb früh mit 28 Jahren, Richard war erst drei Jahre alt.

Vater Anton Reis führte zusammen mit Bruder Tobias den Maler- und Tüncher-Betrieb „Firma Gebrüder Reis“. Das Privat- und Geschäftshaus mitsamt Werkstätten befand sich in der Lindenstraße an der Ecke Obere Wallstraße und ging bis zum Hexenturm. Der Hexenturm ist also die erste Koordinate im Obernburger Leben von Richard Reis. 

Die zweite Koordinate ist der Runde Turm. Im Haus schräg gegenüber, dem Elternhaus seiner Ehefrau Bertl, wohnte Richard Reis von 1952 bis zu seinem Tod. Schwiegervater Emil Reichert hatte auf dem Anwesen seine Holz- und Wagner-werkstatt.

 

Ende der 1960er Jahre wurde diese Werkstatt in ein kombiniertes Wohnhaus mit Ateliers umgebaut. Sein neues Heim und gleichzeitige Arbeitsstätte konnte mein Vater nicht mehr lange nutzen. Er starb 51-jährig am 20. Juli 1974 an den Folgen einer Herzoperation.

Die dritte Obernburger Koordinate in seinem Leben ist die „Schneidmühle“. Die „Schneidmühle“ war ein ehemaliges Sägewerk, das sich gegenüber der Kochsmühle (dem heutigen Kulturzentrum) befand und sich bis zu den Mainanlagen erstreckte. Emil Reichert hatte dort viele Obstbäume gepflanzt, es gab einen Gemüsegarten, Beerensträucher und viele Hühner, die frei herumscharren durften und glücklich waren.

Ab Mitte der 1950er Jahre hatte mein Vater in der „Schneidmühle“ sein Atelier. Dort entstanden viele Ideen für seine Kunstwerke, wurden in Skizzen und Entwürfe verwandelt, weiter entwickelt oder wieder verworfen. In der „Schneidmühle“ wurden – auch von meiner Mutter - die Mosaiken für Schulen, Kindergärten und Privathäuser gesetzt, Glasfenster in Originalgröße für Bleiverglasungen vorbereitet, Betonreliefs, Glasklebefenster oder Gipsschnitte gefertigt und vieles mehr. Die „Schneidmühle“ war außerdem ein beliebter Treffpunkt und ein Kinderparadies. Sie ist eine besonders wichtige Koordinate im Obernburger Leben meines Vaters.

Sein Lebensweg
Richard Reis besuchte von 1929 bis 1936 die „Volkshauptschule“ von Obernburg. Danach war er Tüncherlehrling im elterlichen Betrieb und absolvierte von April 1937 bis Januar 1940 die „Fachabteilung Maler und Tüncher“ der Städtischen Berufsschule Aschaffenburg. 13 Jahre später legte er in Würzburg die Meisterprüfung für das Malerhandwerk ab.

Im Anschluss an die Berufsschule besuchte er von Januar 1940 bis August 1941 die Kunstschule „Die Form“ in München, die von Hein König geleitet wurde. Er hatte dort Unterricht in figürlichem Zeichnen und Malen, Freihandzeichnen und Landschaftsmalerei.

Es waren Kriegszeiten, auch mein Vater wurde zum bewaffneten „Dienst am Vaterland“ verpflichtet. Sein Soldbuch, damals Militär- und Personalausweis, stammt vom 24. Oktober 1942. Er kam zunächst zu den Gebirgsjägern nach Garmisch-Partenkirchen, nach weiteren Etappen an die Front nach Russland. Ende Februar 1944 wurde er bei Sewastopol (Krim) schwer verwundet und entrann knapp dem Tod.

In einem Kriegslazarett wurde ihm am 1. März 1944 der linke Oberschenkel amputiert. Den „Urlaub wegen der Lazarettbehandlung“ – so der Stempel im Soldbuch – durfte er bis Kriegsende in Obernburg verbringen. Mit 20 Jahren wurde der sportliche Richard also zum Prothesenträger, zum Laufen benötigte er einen Stock. 1947 wurde ihm eine 70-prozentige Erwerbsminderung bescheinigt, da er „erheblich geh- und stehbehindert“ war. 

Vom Sommersemester 1946 bis Wintersemester 1951/52 ist er an der Hochschule der Bildenden Künste in München eingeschrieben. Zehn Semester lang studiert er bei den Professoren Franz Klemmer und Franz Nagel Zeichnen und Malen sowie Schrift bei Professor E. J. Schmid.

Der Schwerpunkt seiner Ausbildung ist die Gestaltung von Wand- und Glasbildern. Professor Nagel urteilt im Abschlusszeugnis: „Seine starke malerische Begabung und der vorbildliche Ernst seines Strebens zeitigten Leistungen überdurchschnittlicher Art.“

1952 kehrt Richard also von der Kunstmetropole München in die unterfränkische Provinz zurück. Seit 1949 ist er mit seiner geliebten Bertl verheiratet, hat eine fast dreijährige Tochter, die zweite ist „auf dem Weg“. Welche Möglichkeiten hatte in der darbenden Nachkriegszeit ein junger, gehbehinderter Künstler, der - eigentlich paradox – ausgerechnet „Kunst am Bau“ studiert hatte?

Sein künstlerischer Werdegang
„Kirchengemälde wurde enthüllt“, verkündete das Main-Echo am 4. Dezember 1951. Am ersten Adventssonntag (2.12.) war das Altarbild der Evangelischen Friedenskirche in Obernburg enthüllt und geweiht worden, eine in Fresko-Secco-Technik ausgeführte Darstellung des „Abendmahls“. Es ist der erste bedeutende Auftrag von Richard „in der Heimat“. Damals war er noch Kunststudent und 28 Jahre alt.

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Infolge von Zuwanderung war die Zahl der Gläubigen in den Gemeinden nach dem Krieg stark angestiegen, deshalb wurden in den 1950er und 1960er Jahren relativ viele Kirchen neu errichtet. Dies gilt auch für unsere Region. Die Ausgestaltung einiger dieser Sakralbauten (einschließlich Aussegnungshallen) mit Glasfenstern, Wand-, Decken- und Türbemalungen wurde zu einer wichtigen Phase der künstlerischen Entwicklung meines Vaters.

In der neu erbauten St.-Margareta-Kirche in Sulzbach hat er 1953 insgesamt 37 Glasfenster (Foto links) gestaltet. Die zentralen 14 Fenster mit Motiven des Alten und des Neuen Testaments befinden sich im Haupt-, sechs kleinere im Querschiff. Die Bleiverglasungen dieser Fenster mit einer Gesamtfläche von beachtlichen 117 Quadratmetern wurden von den Kunstglasereien Steinruck in Würzburg und Wolpert in Aschaffenburg ausgeführt. In den Werkstätten war mein Vater immer dabei, er suchte die Gläser aus und überwachte die Fertigstellung.

Auch bei späteren Aufträgen war die Zusammenarbeit mit diesen Kunstglasereien sehr fruchtbar.

Die St.-Laurentius-Kirche in Kleinostheim bei Aschaffenburg wurde bereits 1951 eingeweiht. Sie ist ein Werk des Würzburger Diözesan- und Dombaumeisters Hans Schädel, einem Wegbereiter der modernen Kirchenarchitektur.

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In der Kleinostheimer Kirche hat Richard Reis 14 Kreuzweg-Fenster gestaltet (Bilder oben). Sie wurden von den lokalen Vereinen finanziert und 1956/57 eingebaut. 1959 folgten zwei große Rundfenster, die die Geburt Christi und das Pfingstwunder darstellen.

 

Auch die St.-Konrad-Kirche in Aschaffenburg-Strietwald (1953), die Kirchen von Faulbach-Breitenbrunn (1960), Kahl (1962), Erlenbach-Streit (1970) und die Kapelle des Kreiskrankenhauses in Erlenbach (heute Helios Klinik, 1971) sind mit Glasfenstern meines Vaters ausgestattet.

 

 

Foto links: Marienfenster in Faulbach

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Den Obernburgern vertraut dürften das Auferstehungsfenster in der hiesigen Aussegnungshalle (1956) sowie die bunten Glasfenster in der Unterkirche sein (Fotos oben).

Neben der Kirchenkunst waren die Aufträge öffentlicher Träger für „Kunst am Bau“ für seine berufliche Ent-wicklung entscheidend. Im Altland-kreis Obernburg, im Aschaffenburger und dem angrenzenden hessischen Raum hat er in den 1950er und vor allem den 1960er Jahren viele Kindergärten, Schulen, Rathäuser, Kul-turzentren und andere öffentliche Bauten kreativ gestaltet.

Um keine Verwirrung zu stiften, werden in diesem Beitrag nur wenige Namen oder Orte aufgeführt.

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Eine beliebte Technik für die Gestaltung von Außenfassaden und Innenräumen der damals neu errichteten Kindergärten und Schulen waren Glasmosaiken, die thematisch die Lebenswelten von Kindern widerspiegelten. Wände und Türen hat mein Vater in der Art von Kinderbuchillustrationen mit Märchenszenen und Tiermotiven bemalt. Durch diese Darstellungen wurde die Phantasie der Kinder angeregt und ihre Kreativität gefördert.

Bei den Aufträgen für Schulen und Rathäuser waren generell Elemente wichtig, die das Zusammenge-hörigkeitsgefühl stärken und Identität stiften. Mit wechselnden Techniken und kombinierten Werkstoffen hat er Episoden aus der regionalen und lokalen Geschichte und Motive der typischen Arbeits- und Lebenswelten dargestellt.

Auch Wappen – entweder gemalt, in Mosaikausführung oder in Bronze gegossen - gehören zu diesen Elementen, die die lokale Verbundenheit und Verortung stärken.

Nach der Nazi-Zeit mussten sich die Bau- und die bildende Kunst quasi neu definieren, diese Suche brachten die Architektur und die architekturbezogene Kunst in Bewegung. Stile und Trends veränderten sich schnell. Bald wurde mehr in Beton gebaut, die Kunst wurde tendenziell mehr abstrakt und weniger gegenständlich.

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Auch Richard Reis war in ständiger kreativer Bewegung. Er war experimentierfreudig und probierte neue Techniken und Darstellungsformen aus, die dem veränderten Zeitgeist gerecht wurden. Zu diesen neuen Techniken gehörten zum Beispiel Betonreliefs (wie in der Mittelschule von Obernburg, 1964, siehe Fotos) und Betonglasfenster (z.B. in der Aussegnungshalle von Großwallstadt, 1970).

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Ab Mitte der 1960er Jahre hat mein Vater auch die Gestaltung von Keramikwänden in sein Repertoire aufgenommen. Er komponierte abstrakte oder figürliche Wandbilder, die u.a. für private Schwimmbäder sehr beliebt waren. Die von ihm glasierten Einzelfliesen wurden in den Klingenberger „Albertwerken“ gebrannt und bei der Montage zusammengesetzt.

Natürlich hat Richard Reis nicht nur Kirchen und Rathäuser künstlerisch gestaltet, sondern auch in (und an) Gaststätten, Banken, Gewerbebetrieben, Geschäfts- und Privathäusern kreative Spuren hinterlassen. „Nebenbei“ hat er sehr ausdrucksstarke Bilder gemalt.  

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Foto links: Kleiderfabrik in Niedernberg

Foto rechts: Früher am Rathauseingang in Obernburg zu sehen

Als Schlussbemerkung, auch in seinem Sinne: Ohne seine Frau Bertl wäre seine Kunst nicht möglich gewesen. Ihre handwerklichen Fertigkeiten, ihr Geschick und ihre Ausdauer waren für seine Arbeit unentbehrlich. Ihr Verständnis und ihr Beistand haben ihm geholfen, Krisen und schwere Zeiten zu überstehen. Ihren drei Kindern – Carmen, Bettina und Tobias – haben die beiden vermittelt, dass Kunst zum Alltag gehört und dass durch Phantasie und Kreativität sogar Flügel wachsen können.

Bettina Reis, Tochter