hvvlogosw

Heimat- und Verkehrsverein (HVV)
 63785 Obernburg am Main

Inhaltsverzeichnis

Startseite

Vereinsziele, Vorstand

Vereinsgeschichte

Obernburger Geschichte/n

Römische Geschichte/n

Bauwerke und Gebäude

Persönlichkeiten

Mundart

Aktivitäten

Tanz- und Kostümgruppe

Links

Impressum

Beitrittserklärung

banner_hvv

Neuer Anfang 1945 in der Kleinstadt Obernburg

Am 31. Januar 1945 fand unsere Flucht aus Silberbach in Ostpreußen, die mit großer Angst, Strapazen und Hunger verbunden war, ein Ende. Der Krieg allerdings dauerte noch bis zum 8. Mai an. Wir, sechs Familien, waren die ersten Flüchtlinge aus Ostpreußen die nach langem Hin und Her mit dem Zug in Obernburg ankamen. Denn erst wurden wir von Würzburg nach Aschaffenburg, danach nach Obernburg, von dort nach Miltenberg und dann wieder zurück nach Obernburg geschickt. Das lag an den langen Verhandlungen, die geführt werden mussten, da keiner uns Flüchtlinge aufnehmen wollte. Aber glücklicherweise erklärten sich dann doch einige Obernburger bereit uns zu beherbergen.

Hain Gaststaette Hain Josef vor Wirtschaft

Der Bauer und Gastwirt der „Altdeutschen Weinstube“ Josef Hain holte uns mit seinem Fuhrwerk am Bahnhof ab und war sehr erstaunt über unser Erscheinungs-bild, da wir alle sehr abgemagert und schmutzig waren. Darüber hinaus wunderte er sich, dass wir keinerlei Gepäck dabei hatten, denn er hatte mit vielen Gepäckstücken gerechnet.

Links das Gasthaus, rechts Josef Hain.

Die Töchter von Josef Hain Liesel, Hedwig und Anni sorgten dafür, dass wir ein Bad nehmen konnten und der Sohn Karl richtete inzwischen für uns eine Portion Bratkartoffeln. Als wir sauber waren, genossen wir die Mahlzeit; es waren die besten Bratkartoffeln, die ich jemals bekam. Zum Abschluss gab es noch eine große Tasse heiße Milch. Unsere erste Nacht in Obernburg durften wir in einem der Fremdenzimmer des Gasthauses verbringen. Wir schliefen seit Wochen das erste Mal wieder in einem Bett mit frischer weißer Wäsche. Vor dem Einschlafen dachte ich noch an unseren Vater und unsere ältere Schwester sowie an Großmutter, Onkel und Tante. Das Abendgebet wurde sehr kurz, denn ich war sehr müde.

So begann für mich (damals sieben Jahre alt) und meine Familie der Neuanfang in Obernburg. Die ersten Nachkriegsjahre waren dann für uns Jahre der Trauer um die Liebsten, die umgekommen waren und ebenso Jahre der Entbehrungen und großer Not. Aber die Hoffnung auf einen neuen Anfang blieb, denn immer wieder blühte Jahr für Jahr im Mai der Jasmin im Biergarten der Hains und in den Gärten am Karpfenweg.

Wir bekamen die zwei Dachgaubenzimmer im Hause zugewiesen. Ein schwerer Herd wurde hochgeschleppt. Ebenso die notwendigsten Dinge wie Kochgeschirr, Wassereimer und Essgeschirr. Dazu Tische, Stühle und für das Schlafzimmer zwei Betten, ein Schrank und eine Kommode von der Familie Frey. Aber wir vermissten unseren guten alten Freund aus Ostpreußen, den Kachelofen aus unserem Haus, der immer sanfte Wärme ausströmte.

Nach einer Woche in Obernburg wagte ich mich das erste Mal auf die Lindenstraße zum Spielen. Einige Kinder spielten Ball an einer Hauswand der Weinhandlung und Kelterei Dier. Ein Mädchen rief mir zu: „Bist du ein Zigeunerkind?“ „Nein!“, antwortete ich und erzählte ich sei ein Flüchtlingskind und ich hieße Linde. „Ich bin die Lenie“, sagte sie und kam auf mich zu. Lenie wurde meine erste und beste Freundin in Obernburg.

Täglich gab es Fliegeralarm. Unser Luftschutzbunker war ein Felsenkeller gegenüber dem Haus der Familie Hain im Berg oberhalb der Lindenstraße, den wir beim Heulen der Sirenen schnell durch den Hainschen Garten erreichen mussten..

In der Karwoche waren die Angriffe der Jagdbomber besonders schlimm und so traute sich niemand mehr auf die Straße. Mit kurzen Unterbrechungen kreisten die Fliegergeschwader über unserer Region. Die Tiefflieger kamen aus Richtung Aschaffenburg und hatten die Glanzstoffwerke im Visier. Drei Häuser wurden in  Obernburg von Bomben getroffen. Ein Haus lag in der Kaisergasse und ein Junge kam dabei ums Leben. Die weiteren Häuser waren die Villa der Kinobesitzerin Erna Schnatz in der Miltenberger Straße und ein Haus in der Dr.-Zöller-Straße.

Einmal gab es einen schrecklichen Nachmittag für mich. Ich spielte im Garten neben ein paar großen Bäumen und Jasminsträuchern und backte mit Erde und Wasser Kuchen. Hingebungsvoll verzierte ich die Kuchen mit kleinen weißen Steinchen. Die Sirenen begannen zu heulen, aber ich war so vertieft in meine Arbeit, dass ich sie nicht wahrnahm. Plötzlich schreckte ich durch das Brummen und Grollen der heran nahenden Flieger auf. Sie kamen so schnell, dass es zu spät war in unseren Bunker zu flüchten. Ich verkroch mich unter dem großen Leiterwagen, der neben dem Schuppen in der Lindenstraße stand. Zitternd vor Angst sah ich, dass die Flieger genau auf mich zukamen. Sie flogen so nah über mich hinweg, dass ich ihre Gesichter und die braunen Lederkappen sehen konnte. Ohne die Entwarnung abzuwarten, rannte ich dann durch den Garten zum Felsenkeller und bollerte mit den Fäusten an die dicke Holztür. „Aufmachen, aufmachen!“, schrie ich in meiner Angst. „Wer ist da?“, fragte mich der Luftschutzwart. „Ich, die Linde!“, schrie ich und weinte. Auf Drängen meiner Mutter wurde die Tür geöffnet und der Luftschutzwart schimpfte und polterte los: „Weißt du überhaupt in welche Gefahr du uns bringst? Es ist noch keine Entwarnung gegeben worden und du läufst hierher und zeigst den Bombern wo wir sind!“

Ich suchte bei Mutter Schutz und hoffte, sie würde mich in den Arm nehmen. Aber sie fing prompt an zu schimpfen und schüttelte mich: „Du dummes Ding, wo warst du nur?“ In diesem Moment bekam mein kleines Herz einen Sprung. Ich fühlte mich so schuldig und allein, hatte Todesangst gehabt und jetzt wurde ich nur geschimpft. Ich starrte Mutter an und musste an meinen Vater denken. Er hätte mich getröstet.

Am 26. März wurde die Obernburger Brücke morgens gegen fünf Uhr gesprengt. Am Vorabend wurde alles für die Sprengung vorbereitet und man glaubte, man könne die Amerikaner damit aufhalten, die aber dann am 3. April einmarschierten. Karl Hain hatte eine weiße Fahne geflaggt, besser gesagt, ein großes weißes Betttuch. Rena, meine Schwester und ich standen vor der Gastwirtschaft und winkten mit unseren weißen Taschentüchern kräftig mit.

Hain Gemaelde innen1 Hain Gemaelde innen2

Das Nebenzimmer der Gastwirtschaft mit den schönen Obernburger Gemälden (Bilder oben), in welchem gewöhnlicherweise ein heilloses Durcheinander herrschte, war plötzlich ordentlich aufgeräumt. Da ich immer sehr neugierig war, bemerkte ich sofort, dass alle Uniformen und vieles mehr von den vorher hier gewesenen deutschen Soldaten verschwunden war. Ab diesem Zeitpunkt lagerte alles zugedeckt in einem großen stinkenden Silo im Garten. Uns Kindern fiel das schnelle Lernen von englischen Sätzen sehr leicht. Besondern zwei kurze Sätze: „Hast du Kaugummi?“ „Do you have chewing-gum?“ und „Hast du Schokolade?“ „Do you have chocolate?”

 

Wir befanden uns in der amerikanischen Besatzungszone und eine Tagesration an Lebensmitteln eines Normalverbrauchers entsprach zu dieser Zeit: 350g Brot, 5g Butter, 14g Fleisch, 43g Gemüse, 25g Käse, 2 Kartoffeln, 1/8 Liter Milch. Vorausgesetzt diese Lebensmittel waren in den Läden überhaupt vorhanden.

 

MILAU_ Haushaltsausweis für Vollmilch

Mutter suchte bald nach unserer Ankunft Arbeit und hatte Glück. Das Landratsamt, das nun unter amerikanischer Führung stand, suchte für den ersten Stock eine Putzfrau, die zusätzlich auch für die Beheizung im Winter verantwortlich war. Im ersten Stock gab es acht Zimmer und in jedem stand ein großer Anthrazitkohleofen, der im Winter zur Beheizung diente. Am Abend wurden ein Eimer mit Anthrazitkohle und zusätzlich 10 Briketts in den Ofen geschüttet. Dann musste gleich wieder ein voller Eimer bereitgestellt werden. Dieser zusätzliche Eimer durfte nie vergessen werden, denn ging das Feuer einmal aus, so war es mühsam, die Glut neu zu entfachen. Rena und ich holten jeden Abend in der Heizperiode die Kohlen und Briketts aus dem Schuppen im Hof. Das taten wir elf Jahre lang.

Die Fußböden wurden damals auf besondere Weise gereinigt. Die Böden der Zimmer, der lange Flur und die große Treppe wurden mit geöltem Sägemehl bestreut und dies wurde dann mit einem Besen fest verrieben und anschließend fein säuberlich aufgefegt. Ich war für den langen Flur und die große Treppe verantwortlich. Immer wenn ich die Treppe reinigte, brachte mir die Frau des Landrats Philipp Grimm ein großes Stück frisch gebackenen Kuchen. Und so beschloss ich auch ihre Treppe zu säubern.

Kinder, so auch Rena und ich, mussten zu dieser Zeit überall mit anpacken, sei es bei Feldarbeiten, beim Holz holen oder beim Straße kehren. Am liebsten hielt ich mich aber im Garten der Gastwirtschaft Hain auf. Von Ende Mai bis zum Juli blühte jedes Jahr am Zaun des Gartens der Jasmin.

Mutter schickte mich immer auf die Straße, um dort nach Zigarettenstummeln zu suchen. Die Amerikaner rauchten ihre Zigaretten oft nur bis zu Hälfte und warfen sie dann achtlos weg. Ich war eine sehr begabte Zigaretten-Stummel-Sucherin und meine Schürze war immer schnell sehr voll. Zu Hause entfernte ich das Zigarettenpapier und legte den Tabak auf eine Zeitung. Die Zeitung wurde dann auf die Bratröhre gelegt, damit der Tabak trocknen konnte. Diese Arbeit machte mir kein Vergnügen, aber der Gedanke, mein Vater könnte sich, wenn er zu uns nach Obernburg kommt, über den Tabak freuen und dann seine Pfeife rauchen, ließ mich nicht los. Im Herbst 1945 bekamen wir dann aber die Schicksalsnachricht, dass unser Vater verstorben sei. Nun wussten wir, wir sind komplett auf uns allein gestellt. Um Geld zu verdienen begannen wir nun alles zu sammeln: Glasflaschen, Altpapier und im Herbst Fallobst, das wir an die OVGO verkauften.

Wir fuhren auch mit Herrn Hain aufs Feld um bei der Apfel- und Kartoffelernte zu helfen. Hain kommandierte die Kühe, welche alle einen Namen hatten: Hüo (los geht's) Hoddrim (nach rechts) Haarim (nach links), Oha oder Brr (stehen bleiben).

1945 feierten wir Heilig Abend zusammen mit der Familie Hain in der Gaststube, in der auch der Weihnachtsbaum stand. Es gab Kartoffelsalat und natürlich auch Geschenke. Karl Hain hatte für mich einen Brummkreisel geschnitzt und die drei Töchter hatten für mich einen dicken Wintermantel umgeändert. Zusätzlich lagen für mich noch eine gestrickte Mütze und ein Schal sowie Socken auf dem Gabentisch. Rena, die drei Jahre älter war als ich, durfte sich über einen roten weiten Glockenrock freuen. Der Rock war aus einer alten Wehrmachtsfahne genäht. Ich freute mich so sehr über meine Geschenke, dass ich gar nicht bemerkte, dass unsere Mutter weinte.

Ab Juni 1946 besuchten wir, die evangelischen Kinder, die katholische Konfessionsschule in Obernburg. Dies taten wir bis September, denn dann wurde die evangelisch-lutherische Bekenntnisschule errichtet. Zu ihrem Leiter wurde der Lehrer Neubauer ernannt. Neubauer kam mit seiner Familie aus Schlesien. Im Sommer 1967 wurden die Bekenntnisschule und die Konfessionsschule in eine christliche Gemeinschaftsschule umgewandelt.

Alle Flüchtlingskinder wurden zweimal in der Woche von besser gestellten Familien zum Mittagessen eingeladen. Ich hatte großes Glück, denn sonntags war ich immer bei der Familie Adelberger zum Essen. An Freitagen war ich bei einer Familie in der Knechtsmühle eingeladen. Es gab immer verschiedene Mehlspeisen und Dampfnudeln im Wechsel. Das Rote Kreuz versorgte alle Flüchtlinge täglich mit dicker Suppe aus einem großen Waschkessel auf der Straße. Ebenso gab es in den Pausen auf Anweisung der Amerikaner Schulspeisungen. Meistens waren dies Tafeln aus getrocknetem Milchpulver mit Schokolade- oder Vanillegeschmack. Auch heißer Kakao wurde von den Schwestern und Helfern des Roten Kreuzes aus großen Milchkannen ausgeschenkt.

Zwei Jahre später, am 20. Juni 1948, gab es einen Neuanfang durch die Währungsreform. Jeder Bürger erhielt 60 deutsche Mark als Kopfgeld und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal 20 deutsche Mark. Schon viele Wochen zuvor konnte man für die alte Reichsmark nichts mehr in den Läden kaufen. Die Schaufenster waren teilweise zugehängt und die Geschäfte ausgeräumt. Aber am Morgen des 20. Juni, es war ein Sonntag, waren die Schaufenster wieder mit Waren bestückt und alle staunten über das vielfältige und große Angebot, das man nun markenfrei kaufen konnte.

Ein paar Wochen später stellte der Feinkosthändler Fuchs zwei Kisten Apfelsinen vor seinen Laden. Ordentlich eingepackt in Seidenpapier, welches mit einem Struwwelpeter bedruckt war. Man konnte einfach nicht vorbei gehen ohne dies zu bemerken. Aber leider waren Apfelsinen für mich und meine Familie zu teuer und wir konnten sie nur anschauen. Ich fragte Frau Fuchs, ob sie mir ein Seidenpapier schenken würde. Sie nickte und gab mir eines. Schon das Papier mit dem Geruch der Apfelsinen machte mich glücklich. Ich habe es lange aufbewahrt.

Die Druckerei Bingemer in Obernburg produzierte die Zeitung „Obernburger Bote". Damals kostete das Blättchen 15 Pfennige und Mutter bekam die Arbeit, diese Zeitung an die Leser zu verteilen und das Geld dafür gleich zu kassieren. Es war eine sehr mühselige Arbeit, bei der auch Rena und ich mithelfen mussten.

1946 stellte unsere Mutter einen Antrag zur Nachforschung beim Roten Kreuz. Sie bat das Rote Kreuz festzustellen, wo unsere älteste Schwester, Großmutter, Onkel August und Tante Anna verblieben waren. Glücklicherweise bekam sie bald die Nachricht, dass die vier in einem Lager in Sonnenberg lebten. Mutter besorgte eine kleine Wohnung für Onkel, Tante und Großmutter. Unsere Schwester kam natürlich bei uns unter. Nur wenn man eine Wohnung vorweisen konnte, war es möglich eine Zuzugsgenehmigung zu erhalten. Allerdings waren die Wohnungen nur Notunterkünfte und nicht mit einer gewöhnlichen Wohnung zu vergleichen. Ebenso wurden die Leute den Wohnungen durch Zwangseinweisungen zugeteilt. Die meisten Flüchtlinge in unserer Region fanden in den Glanzstoffwerken eine Arbeit.

MIL Roselore Rena und Linde Mainstrasse 11 alte Treppe Anton Schittig zweite Wohnung

1949 zogen wir um und mussten all unsere Habseligkeiten in die Mainstrasse 11 am Stiftshof schaffen. Wir bewohnten zwei Zimmer, aber wir hatten einen Speicher um die Wäsche zu trocknen.

Neben der Haustüre gab es ein Plumpsklo, aber dies war mehr ein Holzschuppen als eine Toilette. Als Toilettenpapier hing Zeitungspapier an einem großen Metallhaken im Häuschen.

Das Bild zeigt die drei Schwestern auf der Treppe in der Mainstraße, links die Autorin Linde, in der Mitte Rena und rechts Roselore sowie deren Tochter links vorne.

Von unserem neuen Küchenfenster aus konnte ich gegenüber das Haus und die Gerberei Wörn sehen. Ich beobachtete wie die Arbeiter große Felle aus den Gruben hoben. Der Vater meiner neuen Freundin verbot uns auf den Gruben zu spielen. An einem Sonntag spielten Renate, Wiltrud und ich trotzdem Fangen um die Gruben. Ich hatte mein neues Strickkleid an, das meine älteste Schwester für mich gestrickt hatte. Zwei der Gruben waren nicht bedeckt und ich fiel gleich in die erste Grube hinein. Meine Freundinnen zogen mich heraus. Allerdings war mein neues Strickkleid mit der Brühe durchtränkt und stank fürchterlich. Dass ich daheim ausgeschimpft wurde kann man sich ja denken.

Unser Milchlieferant in Obernburg war der Bauer Reichert. Der Bauernhof der Reicherts lag am Kindergarten in der Frühlingsstraße. Jeden Abend ab 18 Uhr konnte man dort Milch holen, was meine Aufgabe war. Zu Hause angekommen trank ich immer eine große Tasse heiße Milch mit Zucker und brockte mir Brot hinein. Das war mein Abendessen. Am liebsten mochte ich die Milch, die direkt vom Melken kam. Ich glaubte, dass mich diese Milch stark und kräftig macht.

Meine Mutter bekam bald eine Arbeit als Austrägerin des „Main-Echos". Aber ohne uns zwei Mädchen schaffte sie es, wie auch beim „Obernburger Boten", nicht. Die Zeitung kam am Morgen mit dem ersten Zug aus Aschaffenburg um kurz vor sechs Uhr an. Um sie zu transportieren kauften wir einen Handwagen beim Eisenwarengeschäft Karl Recknagel. Es waren immer zwei große Pakete, und wir mussten sie Sommer wie Winter zu einer Bank am Stiftshof bringen. Dort angekommen nahm jeder einen Packen unter den Arm und wir begannen mit dem Austragen.

Um 8 Uhr fing die Schule an, und ich kam jeden Tag zu spät. Mit hochrotem Kopf schlich ich mich immer ins Klassenzimmer, legte verstohlen die Zeitung auf das Lehrerpult und setzte mich leise auf meinen Platz in der ersten Reihe. Im Winter war ich immer so durchgefroren, dass ich den ersten Unterrichtsstunden nicht folgen konnte und leider wirkte sich dies auf meine Schulleistungen aus. Beim Diktat machte ich oft so viele Fehler, dass mich der Lehrer vor der Klasse tadelte. Ich bekam ständig Strafarbeiten auf. So musste ich zum Beispiel das Wort Zylinder 100mal schreiben, weil ich es falsch geschrieben hatte. Ich hatte kein Schreibpapier und so half ich mir mit alten Zeitungen, indem ich den weißen Rand abschnitt. Auf meiner Tour beim Austragen der Zeitungen schrieb ich an jedem Haus 10mal Zylinder. Die Papierschlangen legte ich dann unserem Lehrer vor. Er schaute nicht schlecht.

Bald bekam ich ein Fahrrad. Dies machte das Zeitungsaustragen schneller und weniger mühsam. Nach der Schule, wenn ich keinen Nachmittagsunterricht hatte, wurde mein Fahrrad mit Zeitschriften vollbepackt, und ich musste zu den Holzbaracken in der Glanzstoffsiedlung fahren. Zu diesem Zweck setzte ich mit der Fähre auf die andere Mainseite über, um dann den Abonnenten von Quick, Stern, Gong usw. ihre Zeitschriften zu bringen. Eine große Erleichterung und Freude war es für mich, als die neue Mainbrücke eröffnet wurde.

An einem Freitag fuhr ich spätnachmittags mit meinem Fahrrad zu den Glanzstoffwerken am langen Zaun entlang. Kurz vor der Pforte am Bahnhof fand ich eine kleine schmutzige Lohntüte. Ohne groß zu überlegen ging ich zum Pförtner und gab ihm die Tüte. Als ich eine Woche später wieder zu den Holzbaracken unterwegs war, rief mich der Pförtner und überreichte mir lächelnd 50 Pfennige als Finderlohn. „Du hast eine Familie sehr glücklich gemacht!", sagte er zu mir. Ich weiß nicht wie viel Geld in der Lohntüte gewesen war, aber es war sicherlich ein Wochenlohn.

Zu Hause erzählte ich nichts von meinem Fund, denn wahrscheinlich hätte ich die 50 Pfennige abgeben müssen. Für das Geld kaufte ich mir drei Brötchen beim Bäcker Deckelmann und zwei Häuser weiter in der Metzgerei Staab für das Restgeld vier Scheiben gekochten Schinken. Dann setzte ich mich hinter die katholische Kirche in eine Ecke und verzehrte die drei Brötchen vor lauter Hunger auf einmal.

Unsere Mutter war mit ihren Arbeitsstellen so eingebunden, dass sie kaum Zeit für uns Kinder hatte. Sie war ja Alleinverdiener in der Familie. Aber Rena und mir ging es genauso. Vor lauter Zeitungen austragen, Kohle schleppen und Zeitungsgeld kassieren hatten wir keine Zeit für Hausaufgaben oder Handarbeiten. Ich hatte noch eine zusätzliche Arbeit als Gänseliesel bekommen und dies führte dazu, dass ich mich wenigstens für ein paar Stunden neben dem Badeplatz am Main ausruhen konnte. Es war immer sehr lustig. Mein Lohn war ein großes Stück Bauernbrot mit Butter, ein Apfel und 20 Pfennige. Von dem Geld kaufte ich mir für 10 Pfennige ein Eis und drei Cremehütchen mit Himbeeren, Waldmeister und Schokogeschmack.

Am 1. Juni 1949 bekamen wir, die evangelischen Christen, einen eigenen Pfarrer und die Freude war groß. Er bezog mit seiner Familie eine Mietwohnung in einem großen Haus an der OVGO. Hier trafen sich die Bibelgruppen, der Kirchenchor, die Konfirmanden und die Mädchengruppen. Der Gottesdienst wurde von Pfarrer Otto in der kleinen katholischen Wendelinus-Kapelle an der OVGO abgehalten. Neu für die Besucher des Gottesdienstes war die Einführung des Klingelbeutels. An Christi Himmelfahrt 1951 wurde die neu gebaute evangelische Friedenskirche in Obernburg eingeweiht. Die Gemeindemitglieder und der Kirchenchor sangen kräftig und laut. Meine Mutter, Rena und ich sangen im Kirchenchor mit.

1952, meinem Konfirmationsjahr, bekam ich eine Lehrstelle als Friseuse in Sulzbach. Ich hätte sehr gerne einen anderen Beruf erlernt. Zum Beispiel wäre ich gerne Floristin geworden, aber leider gab es nur eine Lehrstelle in Obernburg und die war schon an eine Schulkameradin vergeben. Also beendete ich meine Friseurlehre und hatte mit 17 Jahren meinen Gesellenbrief in der Tasche.

Dann traf ich meinen Ehemann Erwin und wir heirateten bald. Wir bauten ein Haus in Trennfurt und erweiterten es mit den Jahren um einen Wintergarten und einen Blumengarten. Nun sind schon über 50 Jahre vergangen, aber immer noch fehlt mir in meinem Garten ein Strauch duftender Jasmin.

Sieglinde (Linde) Milautzcki, geb. Huwald