hvvlogosw

Heimat- und Verkehrsverein (HVV)
 63785 Obernburg am Main

Inhaltsverzeichnis

Startseite

Vereinsziele, Vorstand

Vereinsgeschichte

Obernburger Geschichte/n

Römische Geschichte/n

Bauwerke und Gebäude

Persönlichkeiten

Mundart

Aktivitäten

Tanz- und Kostümgruppe

Links

Impressum

Beitrittserklärung

banner_hvv

Naturalverpflegestation

Seit dem späten Mittelalter waren im Gefolge des Zunftwesens Handwerksgesellen auf Wanderschaft. Diese Tradition hatte durchaus positive Auswirkungen. Die Gesellen erwarben sich z.B. neue Kenntnisse, mit denen sie, nach ihrer Rückkehr, als Meister das örtliche Umfeld bereicherten.

Mit dem Beginn der Manufakturen, der einsetzenden Industriealisierung und dem Ende der Kleinstaaterei durch Napoleon weitete sich das Wanderwesen stetig aus. Die Not der Wandergesellen war nicht zu übersehen. Es entstanden um die Mitte des 19. Jh. Gesellenvereine auf konfessioneller Grundlage (siehe das Werk Adolf Kolpings).

Als nach der Reichsgründung 1871 die Zahl der Wanderer, Handwerksgesellen und Vaganten, die Deutschlands Landstraßen bevölkerten, weiter wuchs, führte das teilweise zu unerfreulichen Zuständen. Gemeindliche Einrichtungen, Obdachlosenheime, Armenpfleg- schaften usw. waren oft überfordert. Hausbettel und Diebereien nahmen zu. Staatlicherseits suchte man nach Möglichkeiten, den Mißständen zu begegnen. Und so entstanden auch in Bayern die Naturalverpflegstationen.

Auf der Suche nach Akten und Unterlagen konnte Frau Resi Priol dank ihrer ausgezeichneten Kenntnisse im städtischen Archiv fündig werden.

Im “Klingenberg – Obernburger Bote” erschien am 1. Jan. 1889 eine Bekanntmachung des Kgl. Bezirksamtes Obernburg vom 27. Dez. 1888, die Errichtung von Naturalverpflegstationen in Obernburg und Mönchberg betreffend. In 14 Paragraphen waren detailliert Art und Abwicklung der Leistungen der Verpflegswirthe festgelegt, ebenso die Überwachung und Anweisung der Wanderer und deren Arbeitsleistung geregelt. Die bisherigen Unterstützungen sollten entfallen. Die Kosten wurden im Umlageverfahren von allen Gemeinden aufgebracht. “... bis zum Betrage von 2 % des Solls der sämmtlichen direkten Steuern.” Für die Stadt Obernburg ergab sich für 1889 (aus 2% von 6540 Mk) ein Betrag von 130,80 Mk.

Schon am 28. Dez. 1888 hatte der Magistrat die Errichtung einer Naturalverpflegstation befürwortet und mit “Johann Alois Reis, Gastwirth zum bayerischen Hofe” einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen.

BayerischerHof2

Auf Anweisung des Verpflegstationsleiters (bis 1894 Bürgermeister Eduard Müller danach bis 1919 Eduard Deckelmann) oder dessen Stellvertreters, hatte er an durchreisende Handwerker abzugeben:

“Morgens Kaffee mit Brod, mittags Suppe oder Gemüse-Mehlspeise mit Brod, abends Suppe oder Gemüse mit Brod, Nachtquartier auf Stroh mit Decke.” Die Vergütung hierfür waren 10 Pfg., 20 Pfg., 15 Pfg. und 15 Pfg.; also ergab sich ein Tagessatz von 60 Pfg.

Die Güte der Kost unterlag der Kontrolle. Geistige Getränke durften vom Wirt bei 3 Mk Vertragsstrafe unter keiner Bedingung verabreicht werden. Aber sicherlich waren unter den Verpflegten auch solche, die sich zusätzlich ein Stück Wurst oder anderes leisten konnten.

Am 6. Februar 1889 schrieb der Leiter der Verpflegstation:

“.. die durchreisenden Handwerker wissen sich in die Einrichtung ganz gut zu fügen und zeigen im Ganzen ein anständiges Benehmen.”

In der Abrechnung für das 1. Quartal 1889 schrieb der Stadtschreiber Becker am 3. April 1889:

“Soviel können wir constatiren, daß die Einrichtung schon während der nun verflossenen Wintermonate von der ganzen Stadt als eine Wohlthat empfunden wurde.”

Es folgt die Aufzählung der Arbeiten, die zu leisten waren. Mehrere Male gab es auch Unstimmigkeiten mit Leuten, die unberechtigterweise Verpflegung beanspruchten oder solchen, “welche lediglich eine Arbeitsbescheinigung sonst aber nicht die geringste Legitimation hatten; alle diese Individuen haben wir unnachsichtlich abgewiesen.”

Es galt das Prinzip: Keine Verköstigung ohne Arbeit. Immer wiederkehrende Klagen zeigen, daß es damit Schwierigkeiten gab, die wohl auch mit der unterschiedlichen Handhabung seitens der örtlichen Behörden zusammenhing. Jedenfalls zogen sich solche Beschwerden durch alle Berichte des Kgl. Bezirksamtes und des Bezirkes Unterfranken und Aschaffenburg.

Zur Veranschaulichung einige Ausschnitte:

30. März 1893:

“An Sonntagen und anderen, von dem Stationsverband bezeichneten Feiertagen, wird vormittags Ruhe und Verpflegung, einschließlich Mittagsverpflegung allen denjenigen gewährt, welche Tags zuvor rechtzeitig und mit vorschriftsmäßigen Legitimationspapieren eingetroffen sind. Nachmittags wird weiter gewandert.”

Es wurde empfohlen ein diesbezügliches Plakat in der Station anzuschlagen.

2. Jan. 1894:

“Nachstehend teile ich Ihnen Auszug aus einer Entschließung des Kgl. Regierungspräsidiums von Unterfranken und Aschaffenburg vom 20. Dez. v.Js. mit unter der Veranlassung, Ihrerseits Vorschläge darüber zu machen, wie eine längere und ernstliche Beschäftigung der Durchreisenden sich ermöglichen läßt, wobei ich bemerke, daß ich die Ansicht des Kgl. Regierungs-Präsidium, wonach die bisherige Beschäftigungsart und Dauer als eine bedeutungslose und nicht ernstliche zu betrachten ist, vollkommen teile.”

Nachdem von seiten der Stadt um eine Remuneration (Entschädigung) der beiden Polizeidiener Platz und Leimeister und des Stadtschreibers Becker für die zusätzlichen, umfangreichen Tätigkeiten ersucht worden war, teilte das Kgl. Bezirksamt mit, daß für das 1. Semester 1889 50 Mk (später 70 Mk) für die Polizeidiener und 20 Mk für den Stadtschreiber gewährt werden.

“Bei Festsetzung dieser Entschädigung war einerseits der Umfang der Leistungen der mit den Arbeiten der Verpflegstation Beschäftigten, andererseits aber die Ansicht maßgebend, daß zur Erreichung eines gemeinnützigen Zweckes Alle, insbesondere aber Jene, welche eine öffentliche Stellung innehaben, nach Kräften beitragen sollen, und daß von diesem Standpunkte aus eine volle Entschädigung für die geleisteten Dienste weniger in einer entsprechenden Bezahlung als in dem Bewußtsein bethätigten Gemeinsinnes gesucht werden soll.”

Die Polizeidiener erhielten zusätzlich Unterstützung. Mit der Beaufsichtigung und Anleitung der zur Arbeit eingeteilten Wanderer wurde Heinrich Nebel, später Protasius Ludwig beauftragt. Sie erhielten für diese Halbtagstätigkeit 80 Pfg.

An Arbeiten waren auszuführen:
Straßen reinigen, Schutt einebnen, Holz sägen, Auskehren der Rathauszimmer, Eis aufschlagen an den städt. Brunnen, Steine klopfen, Kot abziehen, Schnee schaufeln. Der Wert der geleisteten Arbeit wurde mit 10 Pfg. je Stunde vermerkt.

Im Dez. 1889 wurden erstmals Klagen über schlechtes Essen laut. Im gleichen Protokoll waren auch Beschwerden über verspätete Essensausgabe notiert. Der Wirt wurde streng ermahnt. Man wies darauf hin, daß die Handwerker um 6 Uhr, winters um 7 Uhr aufstehen müssen, widrigenfalls sie kein kostenloses Frühstück erhalten.

Zum 1. Jan. 1891 wurde die Vergütung für Verpflegung und Nachtlager um jeweils 5 Pfg. angehoben (Tagessatz 80 Pfg.) und damit die Erwartung verbunden, daß künftig über Verpflegung und Reinlichkeit nicht mehr geklagt werden könne. Angaben über weitere Preiserhöhung liegen nicht vor. Außer geringen Materialkosten rechnete die Stadt mit dem Bezirksamt Fährgeld und Brückenzoll ab. So erhielt der Mainfährer Reichert für 1889 234 mal 3 Pfg. = 7,02 Mk. Nach Fertigstellung der neuen Brücke wurden für das 1. Semester 1890 254 mal 3 Pfg. = 7,62 Mk. Brückenzoll abgerechnet.

Nachdem das Anwesen in den Besitz des Metzgers Josef Ederer übergegangen war, erhielt dieser am 10. Mai 1892 den “Erlaubnisschein der radizierten (1) Gastwirtschaftsgerechtsame zum Bayerischen Hof.” Er war damit der neue Verpflegswirt.

In den vorliegenden Jahresabrechnungen kommt zum Ausdruck, daß die Station zeitweise stark frequentiert war.

Die Höhe der Abrechnungen betrug:

1889

696,10 Mk

1906

1631,60 Mk

1891

1097,25 Mk

1909

3728,30 Mk

1892

1449,20 Mk

1913

3609,65 Mk

1899

1871,05 Mk

1914

2409,90 Mk

1900

2281,90 Mk

 

 

  

Mit Ausbruch des Krieges 1914 wurde verfügt, daß nur noch in ganz besonderen Fällen Naturalverpflegung gewährt werden dürfe und so enden die entsprechenden Abrechnungen mit dem 1. Quartal 1917.

Für das Kgl.Bezirksamt führte der Stadtschreiber genaue Aufzeich-nungen. Man wollte offenbar Kenntnis bzw. Nachweise haben über Verpflegstationen und Wanderbewegungen. So wurde u.a. auch auf Beschlüsse der “ersten ordentlichen Generalverbandsversammlung deutscher Verpflegstationen” zu Kassel 1892 und Berlin am 8. März 1893 verwiesen.

Es liegen z.B. folgende Aufzeichnungen vor

Jahr

1904

1906

Zahl der Verpflegten

3482

2141

Volle Verpflegung mit Nachtlager

2879

1828

dto ohne Mittagessen

591

311

nur Mittagessen

12

3

Abgewiesen wurden

12

109

 

 

 

Berufe:

 

 

Landwirtschaftliche Arbeiter

244

157

Handwerker

2054

1391

Bau- und Erdarbeiter

280

378

Fabrikarbeiter

776

108

Handlungsgehilfen

41

20

Sonstige Durchreisende

87

88

 

 

 

Staatsangehörigkeit:

 

 

Bayern

1144

613

Andere Reichsdeutsche

2053

1315

Ausländer

285

214

 

 

 

Vorhandene Nachtlager

35

35

Vermittelte Arbeitsstellen

47

45

 

 

 

Gearbeitet haben:

1691 Mann

Wert der Arbeit:

1691 mal 30 Pfg. = 507,30 Mk.

Was die Wanderbewegungen anlangt, so ist als Ziel überwiegend der Rhein-Neckar-Raum mit Miltenberg als 1. Etappenziel angegeben, gefolgt vom Rhein-Main-Gebiet mit den Etappenzielen Aschaffenburg,  Seligenstadt, Großostheim und Dieburg. In Richtung Wertheim/ Würzburg wollten nur etwa 15 % der Durchreisenden.

Erwähnenswert ist noch ein vorgefundenes “Verzeichnis der für die Naturalverpflegstation Obernburg beschafften Literalien” mit 18 Inventarnummern.

Nach dem Kriegsende 1918 wurden keine solchen Aufzeichnungen mehr geführt, was darauf schließen läßt, daß das Wanderwesen sich in der alten Form nicht mehr fortgesetzt hat.

Nachdem Josef Ederer am 22. Nov. 1922 den Vertrag gekündigt hatte,  richtete die Stadt einen Tag später ein Schreiben an den Vorsitzenden des Bezirkstages Obernburg, in dem die Schwierigkeiten mit Durchreisenden geschildert wurden. Die Inflation und damit die Geldentwertung sei schon so weit fortgeschritten, daß ein Nachtlager mit Frühstück nicht mehr unter 50 Mk. verabreicht werden könne. Der Armenkasse Obernburg könne es nicht mehr zugemutet werden die Leute zu verköstigen, zumal die Armenverbände es ablehnten, Rückersatz zu leisten.

So richtete die Stadt unter Bürgermeister Heinrich Wörn im 1. Stock des alten Schulhauses (jetzt Rathaus) in der Römerstr. 64 ein Asyl für Durchreisende ein. Dagegen erfolgte bald ein Widerspruch des Druckereibesitzers Bingemer, der das Erdgeschoß gemietet hatte. Daraufhin wurde das Asyl in die von der Stadt erworbene Kochsmühle verlegt.

Mit einem diesbezüglichen Schreiben vom 8. Nov. 1929 endet die Akte “Naturalverpflegstation Obernburg”

 

Nachtrag:
Im “Obernburger Bote” vom 18. Okt. 1935 erschien aus der Feder des Nachbarn Anton Humpl ein Nachruf auf den verstorbenen Josef Ederer. Daraus folgender Auszug:

“Es kann sich jeder Obernburger erinnern, daß er sich jahrelang um Jene angenommen, die kein Obdach ihr Eigen nennen konnten, die auf der Suche nach Arbeit und Brot Land und Länder besuchen mußten, um ihr Leben zu erhalten. Da kamen in der Herberge oft Menschen zusammen, die gut und dankbar waren, aber auch Undankbare, mitunter sogar gefährliche Gesellen.

Ederer betreute sie aus Nächstenliebe in Pflichterfüllung als Herbergsvater. Er hat sich hierdurch für die Allgemeinheit dienstbar gemacht. Es war kein angenehmes Geschäft, was die in der Nachbarschaft manchmal gehörten kräftigen Ausdrücke bezeugten; sie waren aber nötig, um sich als Hausherr zu behaupten.”

Josef Ederer


(1) radizierte Gastwirtschaftsgerechtsame = eine Gewerbeberechtigung, welche in der mit dem Besitze einer unbeweglichen Sache verbundenen Befugnis zum Betriebe eines bestimmten Gewerbes  bestanden. Bei Brauereien, Mühlen, Gasthäusern usw. konnte das Recht zum Gewerbebetrieb nur mit dem Gebäude zugleich veräußert und erworben werden. Die Gerechtsame konnte wie ein Grundstück im Grundbuch eingetragen werden.
(Brockhaus Konversationslexikon, 14. Auflage, 1895, Bd.13)