hvvlogosw

Heimat- und Verkehrsverein (HVV)
 63785 Obernburg am Main

Inhaltsverzeichnis

Startseite

Vereinsziele, Vorstand

Vereinsgeschichte

Obernburger Geschichte/n

Römische Geschichte/n

Bauwerke und Gebäude

Persönlichkeiten

Mundart

Aktivitäten

Tanz- und Kostümgruppe

Links

Impressum

Datenschutzerklärung

Beitrittserklärung

banner_hvv

Ein fast vergessenes Handwerk - Der Heimschneider

„Es war einmal“, so beginnen viele Märchen, und sie haben meistens einen guten Ausgang. „Es war einmal“ auch ein sehr verbreiteter und beliebter Beruf, der gerade in unseren Breiten vielen Menschen Lohn und Brot gebracht hat: Gemeint ist das ehrbare Handwerk des Heimschneiders – früher ein angesehener und gerne erlernter Beruf, heute jedoch so gut wie ausgestorben. Deshalb mutet sein Schicksal aus heutiger Sicht wie ein Märchen an, nur nicht mit gutem, sondern fatalem Ausgang.

Nach den Ursachen muss man nicht lange suchen: Zunächst erfolgte die Verlegung der Heimschneidertätigkeit direkt in die Kleiderfabriken (Einführung der Bandarbeit), dann kam (aus Kostengründen) die Verlagerung der Produktion ins europäische Ausland, dann änderte sich der modische Geschmack der westlichen Damen- und Männerwelt von klassischer zur eher legeren und saloppen Kleidung mit Verlagerung der Fertigung überwiegend in fernöstliche Länder wegen der im Gegensatz zu den bei uns wesentlich höheren, dort aber skandalös geringen Arbeitslöhnen der Beschäftigten.

Über das Für und Wider oder die Frage, warum dies so war, ließe sich lange streiten, was aber nicht Aufgabe der vorliegenden Zeilen sein soll. Hier soll eher der Beruf des Heimschneiders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg näher beleuchtet werden.

Schneider war ein Lehrberuf mit Berufsschulpflicht, Gesellenprüfung und, wer Lehrlinge ausbilden wollte, Meisterprüfung (es gab hierfür aber auch Ausnahmen). Wollte jemand beruflich noch weiterkommen, konnte er sich an einer Hochschule zum Textilingenieur ausbilden lassen, was aber die Hochschulreife voraussetzte.

Wer sich nicht auf die Maßschneiderei festlegen wollte, d.h. als selbständiger Schneider nach mehrmaligem Maßnehmen am Kunden ein fertiges Stück, z.B. einen kompletten Anzug, zu fertigen, wurde als Heimschneider Mitarbeiter einer der vielen Kleiderfabriken, die es nach dem Kriege in unserer Region zuhauf gab.

Zur Erinnerung seien die bekanntesten im damaligen Stadtbereich von Obernburg genannt, nämlich Giegerich auf der anderen Mainseite (heute Baywa-Lager), Vad & Frey (zuerst Römerstraße neben Gasthaus „Ochsen“, dann Johannes-Obernburger-Straße, heute Sozialkaufhaus) und Weidenmann (im Weidig, heute Kuka). Bekannte Namen in Aschaffenburg waren z.B. Euler, Vordemfelde, Desch und Weidenmann.

Daneben gab es am Untermain kaum einen Ort, in dem keine Kleiderfabrik ihren Sitz hatte. Deren Namen sind den älteren Lesern sicherlich noch heute geläufig.

2020 4601
2020 4603
2020 4602

Links oben: Giegerich
Links unten: Weidenmann
Rechts: Vad & Frey neben dem Gasthaus „Zum Ochsen“, heute Haus Baumann.

2020 4604

Jeder Heimschneider hatte sich in seinem Zuhause eine Werkstatt eingerichtet mit einem großen Bügeltisch einschließlich Zubehör, auch Butick genannt, Nähmaschine(n), Kleiderständer, mannshohem Spiegel, Anprobepuppen, ausreichend heller Beleuchtung und großem Behälter für Stoffabfälle, usw.

2020 4605
2020 4701
2020 4702

Der Arbeitsablauf war wie folgt: Einmal wöchentlich, in aller Regel freitags, fuhr/ging der Heimschneider zu „seiner“ Kleiderfabrik, lieferte in einem meistens über der Schulter getragenen blauen Sack die Produktion der abgelaufenen Woche ab und holte Arbeit für die folgende Woche.

2020 4703
2020 4704

Die Fotos stammen aus dem Heimschneidermuseum in Großwallstadt.

2020 4706
2020 4705

Diese bestand aus zugeschnittenen Einzelteilen, die es genauestens zusammenzunähen galt und all die erforderlichen sog. „Zutaten“ hierfür. Bezahlt wurde nach fertigen Stücken, was bedeutete, dass, wer fleißig war und vielleicht der Ehepartner noch mitgearbeitet hat, gutes Geld verdient hat.

Üblicherweise hat sich jeder Heimschneider mit der Zeit auf ein bestimmtes Kleidungsteil spezialisiert und sich dafür eine besondere Routine angeeignet. So gab es Mantelschneider, Sakkoschneider, Hosenschneider, Westenschneider und Damenkostümschneider. Unabhängig davon erledigten die meisten Heimschneider gegen geringes Entgelt gerne kleinere Änderungswünsche privater Auftraggeber. 

Bei der freitäglichen Lieferung wurde natürlich von einem besonders qualifizierten Fachmann, dem sog. Abnehmer, penibel kontrolliert, ob einwandfreie Arbeit geliefert wird. Gab es Beanstandungen, mussten diese bereinigt werden. Je nach Schwere konnte dies wegen der dafür erforderlichen nicht entlohnten Zeit zu einem nicht unerheblichen Einkommensausfall führen.

Der Beruf des Schneiders war in der Nachkriegszeit sehr begehrt und erlernenswert. Es gab Volksschulabgangsklassen, in denen bis zu einem Drittel der Abgänger die Schneiderei erlernen wollten, da sie für den Fleißigen und sauber Arbeitenden gute Verdienstchancen versprach. Hinzu kam, dass dieser Beruf im Vergleich mit anderen Handwerksberufen seine offensichtlichen Vorteile hatte. Beispielsweise der, sich immer im Warmen und Trockenen aufhalten zu können und stets über das Ortsgeschehen auf dem Laufenden zu sein, da in einer Schneiderwerkstatt meistens viel Kommunikation gepflegt wurde.

Hatte er Familie, spielten sich das Familienleben eines Schneiders und alle sonstigen sozialen Kontakte ohnehin fast ausschließlich in der Werkstatt ab. Ich habe das selbst als Bub anlässlich meiner unzähligen Besuche bei meinen beiden Obernburger Heimschneider-Onkeln erlebt und mich dabei immer pudelwohl gefühlt. Ich habe es sehr genossen, wenn, gerade in der kalten Jahreszeit, die holz- bzw. kohlebefeuerten Öfen in der Werkstatt bollerten, wenn die Nähma-schinen schnurrten, wenn leichter Wasserdampf vom letzten Aufbügeln eines Teiles noch in der Luft hing und wenn ich den Gesprächen der Erwachsenen lauschen konnte.

Die überwiegend gemütlich-friedliche Stimmung konnte sich jedoch schlagartig ändern, wenn dem Meister ein Arbeitsschritt missglückt ist. Das konnte  je nach Schwere des Vorfalls für mich heißen, ganz ruhig zu sein, auf keinen Fall aufzufallen, besser noch, sich möglichst unsichtbar zu machen, um nicht der Werkstatt verwiesen zu werden. Aber das kam recht selten vor, weshalb ich mich sehr gerne an diese Zeit bei meinen Onkeln erinnere.

Einem Großwallstädter, dessen Vater Heimschneider war, muss es ähnlich ergangen sein, denn er meinte einmal scherzhaft, sozusagen in der Stoffabfallkiste groß geworden zu sein.

Wurden Lehrlinge ausgebildet, hatte der Meister billige Arbeitskräfte, denn die Lehrlingsentlohnung war ein Hohn. So weiß ich von meinem Bruder, dass er von seinem Meister, bei dem er allerdings nicht lange blieb, in der ersten Woche seiner Lehrzeit ganze 50 Pfennige als Lohn erhalten hat. Der Vollständigkeit halber muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass es ganz früher gar keine Entlohnung für den Lehrling gab, und im Gegenteil die Eltern des Lehrlings dem Lehrherrn Geld für die Ausbildung zahlen mussten. An dieser Stelle sei eine lustige Episode zum Verhältnis Meister/Lehrling angeführt:

Aus verschiedenen Gründen fühlte sich ein Schneiderlehrling von seinem Meister ungerecht behandelt, worauf er auf Rache sann, die er auf seine eigene Weise ausgeübt hat. Jeden Tag musste er für den Meister aus der Küche über eine steile Treppe zur Werkstatt hinauf eine Tasse Kaffee holen, welche die Meisterin bis an den Rand gefüllt hatte. Die Tasse kam stets unverschüttet an, was den Meister schon verwundert hat. Am letzten Arbeitstag der Lehrzeit fragte der Meister, wie er das wohl bewerkstelligt habe. „Ganz einfach“, sagte der frischgebackene Geselle, „am Beginn der Treppe nahm ich einen großen Schluck aus der Tasse und nach der letzten Stufe füllte ich die Tasse damit wieder auf!“ Über die Reaktion des Meisters über diese Enthüllung sind keine Einzelheiten überliefert!

Heutzutage wird fast die gesamte Damen-, Herren- und Kinderbekleidung im asiatischen Raum industriell gefertigt (nach wie vor bei Hungerlöhnen und unter unwürdigen Bedingungen für die Beschäftigten) und die etablierten und teilweise alteingesessenen Kleiderfabriken haben fast alle ihre Pforten geschlossen. Teils noch rechtzeitig aufgrund weitsichtiger Zukunftseinschätzung ohne Verluste, teils – und in der Mehrheit – unter dem Zwang der Gegebenheiten mit mitunter großen Verlusten. Ein paar wenige existieren noch, haben aber keinen leichten Stand. Die Beschäftigten, die durch den oben erwähnten Strukturwandel im Bekleidungsgewerbe ihre Arbeitsplätze verloren haben, kamen Dank unserer günstigen Lage im Wirtschaftsgroßraum Rhein/Main und Dank einer industriefreundlichen Politik weitgehend in anderen Bereichen unter und haben bzw. hatten ihr Auskommen.

Fakt ist, den klassischen Heimschneider gibt es auf absehbare Zeit nicht mehr und das ist schade, leider aber nicht zu ändern. Wer heute in Obernburg die Dienste eines Schneiders beispielsweise für kleinere Änderungen benötigt, kann sich an zwei Nähstuben wenden, die von türkischstämmigen Mitbürgern geführt werden.

Es heißt, das Beständigste im Leben ist der Wandel. Ob dies auch für den Beruf des Heimschneiders gilt? Möglich ist alles!

Ernst Schnabel